TESSERACT, UNPROCESSED, THE CALLOUS DAOBOYS, 27.01.2024, Im Wizemann, Stuttgart
Warum ich über den heutigen Konzertbesuch doch dankbar bin, obwohl die Musik oft nicht meine Soft Spots trifft? Weil es mal wieder eine gute Selbstreflexionsgelegenheit ist, die Aspekte der eigenen Boomerhaftigkeit bezüglich Musik abzuklopfen. Das fängt schon beim ersten Blick auf das Publikum im gut gefüllten Im Wizemann an.
Metalpublikum bei von mir besuchten Events, wie z.B. letzte Woche bei Abbath:
- viele lange Haare
- viele Kutten
- im Schnitt mittelalte bis ältere Leute mit vereinzelten Jugendlichen
Metalpublikum heute Abend
- meist kurze Haare, vereinzelte Dutts
- zwei Kutten gesichtet
- sehr jugendliches Publikum
Dementsprechend gespannt bin ich auf die Musik, denn es wird mal wieder ein First-Listening-Abend. Den Anfang machen The Callous Daoboys aus Atlanta. Erfrischend anders für Oldschool-Metal-Verhältnisse ist schon mal der Anblick der Band. Zwei Frauen musizieren mit und schwarz gekleidet ist man auch nicht. Die Musik? Ein wilder Ritt aus melodischeren, ruhigen Passagen, die sich mit atonalem, rhythmisch verschachtelten Screamo-Parts abwechseln. Und da ich gerade eh schon so am Auflisten war, hier paar extremst subjektive Pros und Cons:
+ abwechslungsreich isses
+ die komplexen Mathcore-Anteile klingen spannend
+ der Sound ist gut
+ Diversität in many ways
+ viel Energie kommt da von der Bühne runter
– kam noch nie klar mit Bands, die abwechselnd Klargesang und Growls/Screams verwenden
– wenn’s nach Metalcore klingt bin ich raus
– … generell scheine ich Musikgenres nicht zu mögen, die auf “core” enden.
Passend zu dem unstetem Treiben auf der Bühne laufen zwischen den Songs Poptunes “vom Band” aka “aus der Konserve”, u.a. auch Burt Bacharach. Insgesamt ein sehr kurzweiliger Auftritt, but not in my wheelhouse, wie man hierzulande nicht zu sagen pflegt.
Unprocessed aus, check notes, Wiesbaden sind dann insgesamt auf einer ähnlichen Wellenlänge wie TCD. Leise, melodische cleane Stimme und Gitarre wechseln sich mit lauten, verzerrten Gitarren und Schreistimme ab. Die rhythmische Verspieltheit gefällt mir, ebenso gibt es harte, instrumentale Parts, die einen aus den Latschen hauend sind.
Erschwerend für mich ist aber, dass neben erwähnter, genereller Unverträglichkeit meinerseits von Musik, die Klargesang mit Gebrülle vermischt, die ruhigen, melodischen Parts. Für mein Dafürhalten warten diese oft mit ziemlich seichten 0815-Melodien auf. Bemühter Vergleich für meinen Gesamteindruck: Ein Gallenröhrling in einer Steinpilzpfanne verdirbt das ganze Essen. Ersetzte Gallenröhrling durch Metalcore-Elemente und et voila, die schiefe Metapher. Es sollte allerdings erwähnt bleiben, dass die Band von den Fans durchaus gefeiert wird. Insofern ist das “old man yelling at cloud”-Bild, in dem “old man = Ich” und “cloud = modernes Musikgenre”, natürlich genauso richtig.
Was mir nach den ersten zwei Bands aber als sehr gutes Contra-Boomer-Argument einfällt, ist Folgendes. Oft hört man ja von älteren Herrschaften über neuere Musiker*innen und Bands sagen, dass frühere Generationen ja noch richtig, handwerklich hochwertige Musik spielen konnten. Ja, konnten unbestreitbar viele. Aber die ersten zwei Hauptbands sind technisch an ihren Instrumenten so extrem gut ausgebildet, dass sie mit diesen Fähigkeiten vor 30 bis 40 Jahren absolute Phänomene gewesen wären.
Der um 21:15 Uhr aufspielende Headliner Tesseract klingt für meine Hörgewohnheiten zwar auch sehr modern, doch ist es für mich einfacher, Gefallen an der Musik zu finden. Die Songs wirken viel homogener strukturiert und weniger schematisch in laut und leise unterteilt. In der Progressiv Metal Sparte ist die Band eingeordnet, und das ist ja innerhalb dieser Schublade auch schon wieder ein eigenes Universum. Virtuose Soli sind allerdings nicht Bestandteil, wie bei so manchen Prog-Bands. Stattdessen integrieren sich komplizierte Rhythmus-Pattern und unterschiedliche Songparts sehr organisch. Das Komplizierte drängt sich nicht auf. Also eher Fates Warning statt Dream Theater, um mal wieder mir bekannte Sachen zu erwähnen.
Richtig großartig gefallen mir vor allem bestimmte, harte Instrumentalparts mit Hirnwindungen verknotenden Rhythmen. Wie jemanden beim Stolpern zuzusehen, der aber einfach nicht hinfallen will. Erinnert mich manchmal etwas an Gojira. Ebenfalls spricht mich die atmosphärische Gesamtstimmung vieler Songs an, die durch das stilvolle Licht noch unterstrichen wird.
Aber nach ca. der Hälfte des Konzerts tauchen so langsam die Fallstricke für mich im Bandsound auf. Sänger Daniel Tompkins trifft mit einer Mühelosigkeit alle Töne, und beherrscht eine beachtliche Bandbreite von leisem, gefühlvollen Gesang bis hin zu hartem Geschrei. Gleichzeitig empfinde ich den Ton seiner Stimme aber auch als seltsam beliebig und unbesonders. Vor allem die gefühligen, getragenen Parts sprechen mich gar nicht an. Und auch das stets gleich oder ähnlich bleibende Tempo der Songs sorgt für eine ablauende Euphorie bei mir.
Was aber wirklich bei allen drei Bands hervorgehoben werden muss, ist der gute Sound in der Halle. Umso bemerkenswerter, da alle drei Bands mit sehr tief gestimmten, bzw. Gitarren mit zusätzlichen tiefen Saiten operieren. Bei Lamb Of God letztes Frühjahr sorgte das z.B. für einen einzigen Schallmatsch. Insofern, eine First Listening Experience, bei der ich das Gehörte tatsächlich auch erfassen konnte. Und mal gut fand, und mal nicht.