MARKUS BERGES, 20.04.2024, Merlin, Stuttgart
„Irre Wolken“ ist der Titel des neuen Romans von Markus Berges, bekannt als Sänger und Songschreiber der Kölner Band Erdmöbel. Nun hat er das Buch im Rahmen einer Lesereise im Stuttgarter Merlin vorgestellt. Seine äußerst beeindruckenden Texte und einzigartige Ausdrucksweise schätzt man schon lang bei seiner Band, vor allem hier beim Gig-Blog (die bereits fünf Erdmöbel-Konzertberichte auf diesem Blog können dies bestätigen, was für eine schöne Zeitreise auch).
Erdmöbel ist vielleicht eine der unterschätztesten Bands hierzulande, die für ihr Werk definitiv mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Wo ähnlich gelagerte Bands im deutschsprachigen Pop wie beispielsweise Element of Crime, Die höchste Eisenbahn oder auch Gisbert zu Knyphausen großen Zuspruch und Publikum erfahren, immer auch hervorgehoben durch deren Texte, wirken Erdmöbel fast wie Underdogs und in der Wahrnehmung leicht aneckend und kauzig. Wäre ja so die klassische „for fans of“ Band. Dieser Status macht sie aber zugleich auch sehr sympathisch, Erdmöbel-Fans feiern sie umso mehr, Auftritte wirken fast familiär, zusammenführend, mit großer Freude an der Musik.
Mit ähnlich großer Freude wird der heutige Abend erwartet, an dem Markus Berges nicht nur liest, sondern auch diverse Lieder singen wird. Erdmöbel werden nicht nur aufgrund der wirklich hinreißenden Pop-Arrangements der Songs geschätzt, dem facettenreichen und melodiösen, beschwingt-heiteren Indie-Pop; absolut hervorstechend sind die Texte von Markus Berges. Die schillernde, poetische Ausdrucksform, seine Sprache und die Bilder, die aus seinen Worten entstehen, sind nicht nur wohlklingend, sondern detailreich, hintergründig, bisweilen herausfordernd und mitunter sonderbar, aber immer erweiternd und voller Referenzen und feiner Verästelungen. Definitiv einem Kopf entsprungen, der viel beobachtet, liest und einem regen Gedankengang nachgeht; die Kunst, etwas auf diese Weise aufzuschreiben und sich auszudrücken, zeichnet ihn aus. In der Kombination seiner Lyrik und der Musik entsteht dieses erhabene und sehr eigene, wohlige Gefühl beim Hören von Songs von Erdmöbel. Die unverwechselbare Eigenständigkeit der Songs, dieses mitunter charmant Verschrobene, Hintergründige, macht Erdmöbel zu einer der spannendsten deutschsprachigen Bands, die es bald schon 30 Jahre gibt.
Umso weniger wundert es, dass Markus Berges auch in Langform Texte verfasst. Der aktuelle Roman mit dem malerischen Titel „Irre Wolken“ ist bereits sein viertes Buch, wenn man so will (eine Songtextsammlung „Liebeslieder“ und drei Romane). Dieser ist kürzlich erschienen und äußerst gut besprochen worden.
Es sei eine Liebes- und Jugendgeschichte, aber mehr Liebesroman als Heimatroman, erzählt er gleich zu Beginn der Lesung. „Irre Wolken“ handelt von einem jungen Pfleger, der in einer psychiatrischen Einrichtung für Frauen arbeitet und sich dort in eine Patientin verliebt. Harter Stoff. Verbotene Liebe. Zugleich gibt der Roman einen Einblick in die Lebenswelt junger Menschen Mitte der 80er Jahre, ganz besonders die des 19-jährigen Protagonisten in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, Telgte. Wir lernen, dass es TelCHte ausgesprochen wird, eventuell aber auch einfach Berges Slang.
Telgte, die Stadt, in der Berges selbst auch geboren ist und, Fun Fact, auf deren Wikipedia-Seite er unter Söhne und Töchter der Stadt auch aufgeführt wird. Später lässt er das Publikum wissen, der Roman sei in mancher Hinsicht autobiografisch. Er hatte nie Interesse, etwas über sich selbst zu schreiben, diese Geschichte jetzt sei eine Art Kompromiss, mit dem er gut leben könne.
Von Beginn an zeichnet sich eine hohe Qualität ab, Berges äußerst angenehme Lese- und Erzählstimme (die Singstimme sowieso) trägt sehr dazu bei. Die einzelnen Kapitel, aus denen er an diesem Abend liest, sind so lebendig erzählt, dass man den Geruch der beschriebenen Räume in der Nase hat, man sieht die Szenen vor eigenen Augen, wenn Markus Berges erzählt. Auch die Abläufe und der Stationsalltag der Psychiatrie sind so ausführlich und detailliert beschrieben, was auf eine lange Recherche hindeuten ließe, wäre Berges nicht selbst über 10 Jahre Pflegediensthelfer in einer Psychiatrie gewesen. Eine weitere Parallele aus seinem eigenen Leben.
Nach und zwischen den vorgelesenen Kapiteln, auf die er vorab ausführlich eingeht und weiteren Kontext gibt, spielt er einzelne, allesamt bekannte Erdmöbel-Songs, die aber immer wieder inhaltliche Parallelen und Verbindungen zum Buch aufzeigen. Allen voran der Titel „Busfahrt“, Fans seiner Band dürften hier die Parallelen direkt erkannt haben. „Busfahrt“ sei „auch eine Psychiatriegeschichte“ und knüpfe an ein Erlebnis an, was er in seiner Zeit als Pflegediensthelfer hatte. Natürlich spielt er den Song mit einem Augenzwinkern. Ein seltenes und äußerst schönes Vergnügen, Markus Berges auch mal solo nur mit Akustikgitarre zu sehen.
Ich konnte sie an diesem Vormittag nicht vergessen und später während der Rückfahrt in meinem Nissan Diesel hätte ich den Kopf ans kalte Fenster lehnen können, wie ich es früher auf Klassenfahrten getan hatte, in Gedanken an Mädchen, in die ich verliebt war, in Bussen, deren Scheiben vibrierten. Das fiel mir ein, als ich ausstieg.
heißt es in dem Song, einem der schönsten deutschsprachigen Liebeslieder. Thema ÖPNV sowieso immer ein guter Stoff und Grundlage für Pop-Songs.
In der Mitte der Lesung öffnet Berges die Runde und geht ausführlich auf Fragen im Publikum ein. Auf die konkrete Frage eines Gastes, der die vorgetragenen Szenen im Buch durch ihre detaillierte Lebendigkeit wie Bilder vor den Augen habe, bestätigt Berges direkt, dass es tatsächlich bereits Anfragen für Filmrechte gäbe.
Dieses Filmische zeigt sich an unzähligen Stellen, die Berges an diesem Abend aus seinem Roman liest, es sind Zeilen wie „Ganz früh ging ich auf die Tanzfläche, wo mich unversehens eine Musik so antitschte, dass meine Kreppsohlen nur so rutschten, ich zuckte völlig fettvergessen.“ oder atmosphärische und emotionale Beschreibungen wie „Die Ems plapperte leise im Mondlicht“ und „Sie machte so ein mehrperspektivisches Gesicht wie von Picasso“ um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Tausend weitere dieser Art finden sich in den Büchern und Songtexten.
Auch die vorgelesene Szene einer Karnevalsfeier in der Psychiatrie, so eindrucksvoll beschrieben, dass man sich selbst darin sieht, deplatziert am Rande der Tanzfläche, erzwungener Frohsinn an falschen Orten, mit Büttenreden von Ärzten und Paartanz mit Ordensschwestern, „cringe“ würde man vielleicht heute sagen, aber was für Bilder. Erdmöbel als Kölner Band sowieso sehr karnevalsaffin, in Stuttgart ist das ja eher eine halbherzige Angelegenheit. Westfalen wiederum, so Berges, „denken, sie hätten Karneval“, umso bizarrer wirkt die Beschreibung dieser westfälischen Karnevalsparty in einer Psychiatrie.
Das Publikum folgt interessiert, fühlt, lacht und singt auf Berges Wunsch auch mit, als er zwischendrin das fantastische „Lied über gar nichts“ spielt. Weitere Erdmöbel-Titel wie „Ich bleibe jung“, „Im Club der senkrecht Begrabenen“ oder auch „Das Vakuum“ sind noch zu hören, wunderschön reduziert dargeboten. Letzteres, ein Stück vom aktuellen Erdmöbel-Album „Guten Morgen, Ragazzi“, das wie ein Großteil des Buchs während eines Aufenthaltsstipendiums in Italien entstanden ist, was der Titel des Albums vielleicht auch preisgibt.
Mit dem vielleicht größten Erdmöbel-Hit (wenn man nach der Anzahl der Spotify Plays geht allemal) „Hoffnungsmaschine“ als Zugabe endet die Lesung. Der Song, im Original ein Duett mit Judith Holofernes von Wir sind Helden, fängt die Gemütslage der aktuellen Zeit mit all ihren Krisen treffend ein und findet vielleicht auch deshalb so viel Anklang, als Hymne der Zuversicht, als „Seelenbrot“, wie Wolf Biermann an anderer Stelle sein Lied „Ermutigung“ bezeichnete. Ein Stück Seelenbrot für schwere Zeiten. Wer jetzt noch mehr Zuversicht braucht, spätestens mit Erdmöbels „Das Leben ist schön“ sollten alle Zweifel für den Moment ruhen. „Hoffnungsmaschine“ muss nicht mal der eigene Lieblingssong sein, aber selbst nach unzähligen Malen allein von Berges’ Zeile „Der Filzstift quietscht wie ein tropischer Vogel“ beeindruckt zu sein, soll hier für den gesamten Abend stehen – was für ein begabter Schriftsteller, Storyteller und Künstler Markus Berges ist.