KETTCAR, 24.04.2024, Im Wizemann, Stuttgart
„Kochkraft durch KMA“ heißt die Vorband und exakt mit deren Schlussakkord betrete ich die Halle im Wizemann. Der beträchtlich euphorische Applaus im schon randvollen großen Saal ist auf jeden Fall ein Indiz, dass es sich lohnt, die Kapelle am zweiten Tag (18.05.) des About-Pop-Festivals nochmals anzuschauen.
Die Zeit, bis Kettcar die Bühne betritt, kann ich nochmals kurz Revue passieren, was ich eigentlich über die fünf Herren aus Hamburg weiß, außer dass sie zu fünft sind und aus Hamburg kommen. Gegründet Anfang der Nullerjahre, Gitarren-Pop-/Rock, Mitbegründer des Labels Grand Hotel Van Cleef, Hits wie „Landungsbrücken raus“ und „Balu“. Das ist nun nicht wahnsinnig viel Wissen über eine Band, die doch viele treue und textsichere Anhänger:innen versammelt, wie sich im weiteren Verlauf des Abends herausstellt. Kettcar war nie eine Band, die mich musikalisch über längere Strecke begleitet hat und wahrscheinlich wäre es viel angemessener an dieser Stelle nochmals die beiden sehr schönen Konzertbericht von David aus dem Jahr 2012 und „stegoe“ aus dem Jahre 2018 zu lesen oder wenn unsere Autorin Sabine diesen Abend eingefangen hätte, die leider absagen musste.
Bei mir ist Kettcar vor allem wegen eines Songs auf die musikalische Landkarte gerückt – „Der Tag wird kommen“. Wer dieses Lied noch nicht gehört, dieses Video noch nicht gesehen hat, bricht bitte an dieser Stelle das Lesen ab und holt das in den kommenden Minuten sofort nach, ohne Widerworte! Eindringlich, toll arrangiert, mitreißend und bewegend ist dieses Lied über einen schwulen Profifußballer, der seine sexuelle Orientierung nicht frei leben will, kann, soll. Dieses Lied ist damals von Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch solo veröffentlicht worden, aber zum Glück schon seit der letzten Tour im Repertoire der Band. Auf der Leinwand im Rücken der fünf Musiker laufen zu verschiedenen Songs Videoausschnitte und es ist eine sehr gute Entscheidung, das Video zu diesem Lied komplett zu zeigen. Ein Vorgang, der auch zeigt, wie eingespielt und tight die Band ist. Der Song ist ein Höhepunkt des Sets, gut platziert in der Mitte der 22 Songs.
Davor und danach kokettiert Bassist Reimer Bustorff bei launigen Ansagen mit der Band-Historie, den ersten Konzerten (z.B. 2002 in der Röhre), der ersten Chart-Platzierung („von 0 auf 43 und in der nächsten Woche wieder draußen“) und dem ab und an auftretenden „Kitsch“ in ihrem Liedgut. Und ja, beim vierten Song des Abends „Balkon gegenüber“, als ein lautstarker Publikums-Chor die erste Hälfte des Songs mitsingt, blitzt der Gedanke auf, dass der Unterschied zu „Pur“ in manchen Momenten nur eine Gitarrensaitenbreite beträgt, z.B. auch bei „Rettung“ oder „Balu“. Das ist übrigens gar nicht unbedingt negativ gemeint – auf der emotionalen Ebene und der Verbundenheit zu ihrem Publikum ist den Bietigheimern doch so einiges gelungen (irgendwann wird es diese Band in den gig-blog-Katalog schaffen…).
Mich sprechen die neueren Songs deutlich mehr an – sie wirken druckvoller und mir fallen die prägnanten Keys deutlich mehr auf, was mir grundsätzlich fast immer gefällt. Daher sind die beiden Songs „Sommer ’89“ und „München“ meine weiteren beiden absoluten Highlights. Der erste erinnert sehr an den Stil von „Der Tag wird kommen“ und erzählt eine Geschichte über Flucht, die in den (immer noch) aktuellen Kontext des Umgangs mit Geflüchteten gestellt wird. Wahnsinnig druckvoll und gut aufgebaut ist „München“, ein Song, geschrieben von Reimer Bustorff, über Alltagsrassismus, der mich schon als Single-Auskopplung des aktuellen Albums begeisterte. Hier zeigen sich alle Stärken dieser Band, die aber natürlich nicht ohne die Landungsbrücken und weiteren vier Zugaben das beseelte Publikum in die Nacht entlässt.