PSYCH IN BLOOM FESTIVAL, TAG 2: 27.05.2023, Komma, Esslingen
Der zweite Festivaltag ist nicht nur der längste, er hat auch das publikumswirksamste Line-up. Und während draußen im an einem langen Tisch eine Gruppe von Nerds irgendwelche Elektronik zusammenlötet (der Sinn dieser Bastelei wird sich später erschließen), begeben wir uns schnurstracks vom sonnendurchfluteten, bereits gut gefüllten Komma-Hof in den dunklen Saal.
Zement
Dort haben sich für die frühe Stunde – es ist gerade mal 16 Uhr – bereits erstaunlich viele eingefunden. Die Visual Artistin Hannah Grünewald steht zusammen mit dem Nürnberger Duo Zement auf der Bühne und unterlegt deren repetitiven Neokraut-Sound mit live gemischten Video-Kunstwerken. Die Musik, die im allseits bekannten Konzert-Container in Stuttgart erst kürzlich „ein echter Abriss war“ (O-Ton eines Anwesenden), wirkt zu dieser Uhrzeit und bei einem langsam eintrudelnden Publikum deutlich relaxter, führt aber dennoch zu erster Bewegung, wohlwollendem Applaus und dem erwünscht lockeren Gemütszustand für den weiteren Tag. Warm-up gelungen.
– Holger
Marcus Caspers
Eine weitere sympathische Schrulligkeit des Festivals ist, dass man neben unfassbar viel Musik auch Bildungsinhalte vermittelt bekommt. Zu diesem Zweck steht am DJ-Pult in der Bar Markus Caspers, Autor des Buches „Vinyl World. Die Welt ist eine Scheibe“ und Professor an der Hochschule Neu-Ulm. Völlig unbeeindruckt von lebendigen Treiben in der Bar, schlägt er im Rahmen seiner „Disclecture“ einen ganz großen Bogen. Von den Anfängen der elektronischen und psychedelischen Musik hin zu den Einflüssen der Psychedelik auf die Popkultur und Musik der französischen Sechzigerjahre. Das ist hochunterhaltsam, mit vielen Soundbeispielen versehen und insofern lehrreich, als dass es der von mir so geliebten Yé-Yé-Musik nachträglich ein musiktheoretisches Fundament unterschiebt. Formidable!
– Holger
Lucy Kruger & the Lost Boys
Ok, ich gebe es zu: Lucy Kruger & the Lost Boys sind für mich der Teil des Line-ups, über dessen Veröffentlichung ich mich am meisten gefreut habe. Nach dem überraschenden Auftritt auf dem Maifeld Derby und dem umwerfenden Club-Gig im Merlin sind die Erwartungen hoch, zumal das aktuelle Album „Heaving“ einige Titel enthält, die live hervorragend funktionieren müssten. Und so ist es auch: die Südafrikanerin mit der dunklen Stimme hat bereits allein durch ihre Präsenz und den Opener „Auditorium“ das Publikum gefesselt. Immer wieder fixiert sie einzelne Zuschauer:innen mit ihrem durchdringenden Blick und schafft eine beklemmend intensive Nähe, die den meist dunklen Songs noch mehr Wucht verleihen.
Ihre Band ist brillant, die Gitarristin begeistert durch schräge Akkorde, eine Bratsche gibt zusätzliche Unterstützung in Moll. Liquid Lisa, die sich im Laufe des Festivals zu meiner Lieblingslichtgestalterin entwickelt, liefert die passenden Visuals. Krugers Auftritt hat einen enormen Sog und zieht einen unweigerlich in ihre dunkle Gedanken- und Gefühlswelt. Mit „Burning Building“ endet das Set. Der Song, der so trügerisch fröhlich mit
Hey girl let’s go!
beginnt und schon in der nächsten Zeile mit
I’m sauntering out of a burning building
die finstere Hintergrundgeschichte andeutet und mit kakophonischen Gitarrenlicks illustriert wird. Ich bin nicht der einzige, der sich nach diesem umjubelten Auftritt eine Träne der Rührung aus den Augen wischt.
Das war überwältigend und definitiv ein Anwärter für die Jahres-Bestenliste. (Und dass der heute notorisch kritelnde Begleiter ihr eine latente Nick-Cave-Haftigkeit attestiert, drehe ich einfach um in ein Kompliment. Ich kenne keine andere aktuelle Musikerin, die so sehr in der Klasse des Meisters spielt wie Lucy Kruger.)
– Holger
Setlist Lucy Kruger & the Lost Boys
Auditorium
Stereoscope
Risk
Little Ghost
Heaving
Tender
Half of a Woman
Howl
Autobiography of an Evening
Play
Burning Buildung
Levin Goes Lightly
20 Uhr, Auftritt Levin Goes Lightly. Alle mit kalkweißen Gesichtern und schwarzen Augen und Mündern. Heiß erwartet wird seine kalte Musik vom jetzt vollen Saal.
Kommt näher. Damit es kuschelig wird. Wir sind alle total nett.
… lädt uns das Zombigesicht ein. Wir trauen uns einen Schritt näher an die Toten heran.
Levin Goes Lightly präsentiert überwiegend neue Songs seines kommenden Albums. „Wake“ heißt der erste Track, es folgen „Drift“ und „Numb“ und sie bewegen sich im melancholischen Synthie-Pop. Levin und Band haben tief im musikalischen Schwarz der Achtziger Jahre gebuddelt, deshalb haben wohl nun alle schwarze Fingernägel.
Alisa [aka Gaisma, Anm. der Red.] akkordet am Keyboard, Jule spielt den Bass, Paul die Drums, Levin singt mit seiner tiefen, sonoren Stimme. Wären wir tatsächlich in den Achtzigern, würden die Musiker, allen voran der Frontmann, uns, dem Publikum, unnahbar, ernst und entrückt gegenübertreten. Aber das war vor vierzig Jahren. Levin ist richtig gut drauf, fröhlich lächelt er uns und seine Musikerinnen an. Mit hochgezogener Augenbraue und verschmitztem Blick prüft er in dem hinter ihm aufgebauten Spiegel, dessen Form an eine übergroße Sonnenbrille erinnert, ob seine Gelhaarfrisur sitzt. Ein Spiel mit dem Stil.
Weiter geht es mit seinem wunderbaren Song „She’s Dancing“ vom 2015er Debut „Neo Romantic“. Gegenüber diesem Track mit seinem stoischen Beat und seiner repetitiven Hook sind die neuen Songs weniger stark. Oder wie der Psych-In-Bloom-Gig-Blog-Hauptfotograf meint: Die neuen Songs sind nicht monoton genug, deshalb sind sie langweiliger. Warten wir das neue Album und die neue Show ab. Ich freue mich sehr darauf, seinen nächsten Schritt erleben zu dürfen.
Levin verabschiedet sich bereits nach 45 Minuten, er dankt allen seinen Musikern und Kathi fürs Schminken. Sichtlich berührt ist er vom herzlichen und langanhaltenden Jubel der Psych In Bloomer. Schön, dass er hier war.
– bertramprimus
Set-List Levin Goes Lightly
Wake
Drift
Numb
She´s Dancing
By Side
Last Call
Wall of Noise
21 Uhr. Eine kleine und feine Performance der Teilnehmer des Lötspektakels „Circuit Circle Workshops“, welches von StöRenFrieD Alwin Weber am Nachmittag angeboten wurde. Die fünf Teilnehmer stehen um einen Tisch herum und drehen an ihren frisch gelöteten Modulen. In der Mitte der Herr Kapellmeister StöRenFrieD. Grinsende Gesichter. Hier wird gebrezelt und gequietscht. So viel Krach mit so viel Herz.
– bertramprimus
MaidaVale
22 Uhr. Die vier Schwedinnen von MaidaVale machen straighten Psychedelic Rock, der an Hard Rock im Stil der 70er Jahre erinnert. Gitarristin Sofia Ström gibt auf dem Wahwah-Pedal ordentlich Gas. Bassistin Linn Johannesson hält den Bass, wie ein Bass zu halten ist: im 45°-Winkel, stoisch breitbeinig stehend, die Saiten anschlagen, ohne Getue, ohne Firlefanz. Schlagzeugerin Johanna Hansson klopft den Takt gerade. Sängerin und Gitarristin Matilda Roth überzeugt durch ihre starke stimmliche Präsenz. Ab und zu schlägt sie den Schellenkranz. Hier wird gearbeitet.
Hört man von vier schwedische Rockerinnen, evoziert dies möglicherweise bestimmte Bilder, zumindest in alten Männerhirnen. Diese werden von der Realität konterkariert. Alle vier Frauen tragen Jeans, keine Lederbustier oder Nieten-BH im Stil der 80er Jahre, Doro-Pesch-Porn Hilfsbegriff. Ist das nun schon sexistisch, die nüchterne Kleidung der vier Damen positiv hervorzuheben? Ich finde es jedenfalls großartig. Hier steht die Musik, Können und Haltung im Vordergrund. MaidaVale wartet zwischen den rockigen Passagen mit wundervollen Breaks auf, die mit einfachen Gitarren-Tunes, die entfernt an Western Gitarre erinnern, gefüllt werden, bis das Gebrezel wieder losgeht. Wer kennt die überwältigen Breaks von Tame Impala? So in etwa.
Ganz wunderbar ist die Arbeit der Visual Artists Liquid Lisa. Mittels drei Tageslichtprojektoren werden mit Flüssigfarbe auf Glastellern und opaken Schablonen ganz wundervolle Farbspiele erreicht. Eine Technik, so alt wie die Anfänge der psychedelischen Kunst, aber so schön inszeniert. So viele Pipetten mit Farbe wie Akkorde auf der Bühne. Diese analogen Farbspiele sind für mich bislang die schönsten hier auf dem Fest.
MaidaVale war 2019 im damals noch existenten Keller Klub und hatte damals schon restlos überzeugt, wer mehr wissen möchte, der lese hier.
– bertramprimus
Setlist MaidaVale
Hysteria
Walk
Trance
Spektrum
Sun
Deadlock
Pretty
Attention
She
Gold
Electric Orange
24 Uhr. Zeit für das geschlagene UFO. Electric Orange aus Aachen, seit 31 Jahren im All des psychedelischen Krautrocks unterwegs, landet zu später Stunde beim Psych In Bloom. Das UFO ist die in unseren Breiten selten gesehene Handpan, ein Perkussionsinstrument, eine Metalltrommel, die aus zwei miteinander verbundenen, gewölbten Metallschalen besteht – und aussieht wie ein UFO.
Dirk Bittner spielt es, genauso wie die Congas und die gute alte Cow Bell, und verleiht damit Electric Orange eine Unverwechselbarkeit. Die für dieses Genre verhältnismäßig klaren, rhythmusbasierten und stilsicheren Stücke von Electric Orange erinnern an Can, vielleicht manchmal sogar an frühe Pink Floyd.
Im Gegensatz zu Weltraum am Abend vorher, die oft einen sägenden Sound erzeugten, ist die Musik von Electric Orange viel freundlicher, feinsinniger und verspielter. Dazu trägt auch die Orgel, gespielt von Gründer Dirk Jan Müller, bei. Der Bass kommt von Werner Wieczorek und das Schlagzeug wird von Georg Monheim bedient. Auf die Schläge wird punktuell ein Echo gegeben, Psychedelic Kraut Dub.
Ich würde gerne mal ein abendfüllendes Electric Orange Konzert erleben und mich genussvoll entführen lassen, um die Kompositionen mit all ihren Referenzen und Neuinterpretationen erleben zu können. Diese kenntnisreichen Musikern schaffen einen schönen Abschluss für den zweiten Tag.
– bertramprimus