MAIFELD DERBY, Tag 2 und 3, 11.+12.06.2022, MVV Reitstadion, Mannheim
Ups, leider ziemlich verspätet, aber die Chefin hat’s ja schon geschrieben: Der akkreditierte Autor ist kurzfristig ausgefallen. Von den auf dem Maifeld Derby herumspringenden Gig-Bloggern war ich wohl als einziger blöd motiviert genug, noch einen kurzen (haha!) Nachklapp zu schreiben. Die Bilder sollen ja nicht gänzlich unbetextet ins Internet gestellt werden. Wäre auch zu schade, wenn die elfte Ausgabe unser aller Lieblingsfestivals nicht in Gänze gewürdigt würde.
Kleiner Nachtrag zum Freitag: die Nordiren Enola Gay waren meine Entdeckung des Tages. Auch wenn sie mit technischen Problemen zu kämpfen hatten, konnte ihr ruppig-noisiger Postpunk das Publikum im kleinen Hüttenzelt mächtig in Bewegung setzen. Dass sie häufig in einem Atemzug mit Idles genannt werden, ist absolut berechtigt. Von dieser jungen Band wird man garantiert noch mehr hören.
Überhaupt ist das schmucklose Hüttenzelt neben dem schon legendären Parcours d’Amour meine Lieblingslocation. Das erste Highlight des Samstags wird allerdings auf der Open-Air-Bühne gesetzt: Die (in Berlin lebende) Südafrikanerin Lucy Kruger schafft es, mit ihrer Band The Lost Boys finster-melancholischen, atmosphärisch dichten Psychedelic Folk Rock in das gleißende Sonnenlicht zu zaubern. Großer Respekt für das konsequente Tragen schwarzer Jackets unter diesen Bedingungen.
Musik-Connaisseure mögen die Nase rümpfen, aber für einen Auftritt der Zauberkünstler Siegfried & Joy verlasse ich das Arab-House-Duo Taxi Kebab bereits nach 15 Minuten (mit großem Bedauern, aber vielleicht kommen sie ja mal zu einem der arabischen Musikevents nach Stuttgart?) und das Konzert von Black Midi lasse ich dafür sogar komplett sausen. Der unfassbar witzige und temporeiche Auftritt der beiden Zauberer ist es aber wert. Selten so viel gelacht im Parcours d‘ Amour!
Und dann mal wieder in die typische Festival-Falle getappt: Überall vorbeigeschaut, nichts richtig komplett gehört und das wichtige verpasst. Die New Yorker DIIV machen auf der OpenAir-Bühne routinierten Indierock mit Shoegaze, bei der in Zambia geborenen Australierin Sampa the Great reicht’s nur für eine Stippvisite bei der fröhlichen Afropop-Party im großen Zelt und den neuseeländischen Maskenmann Jonathan Bree lasse ich für Odd Couple gleich ganz sausen. War vermutlich ein Fehler, denn Brees Auftritt wird gleich von mehreren Kolleg:innen als das Highlight des Festivals genannt. Allerdings hatte ich bei den erwartet freudig aufspielenden Odd Couple auch eine sehr gute Zeit.
Um Bilderbuch mache ich einen großen Bogen und warte auf King Gizzard & the Lizard Wizard. Schließlich waren die Australier eines der Highlights in der 2017er-Ausgabe. Der Auftritt im Palastzelt fühlt sich dann – verglichen mit der kollektiven Ausrastung in der Mittagssonne vor fünf Jahren – seltsam steril an. Durch die LED-Wand im Hintergrund ist die Band kaum zu sehen, der Verlust des zweiten Schlagzeugers ist auch etwas enttäuschend. Und die Musik? Ja, die ist professionell präsentierter, routiniert runtergespielter Psych Rock (oder so). Nach dem ersten Song – also nach einer halben Stunde – verlasse ich das Zelt Richtung Petrol Girls.
Und das war eine gute Idee: die feministischen Punkrocker:innen aus London falten im Hüttenzelt gerade das Publikum zusammen. Mit klaren Botschaften und vor allem unfassbarer Energie und Zorn.
Zum Tagesabschluss bestaune ich noch die französische Ein-Mann-Techno-Kombo Mezerg im großen Zelt. Unglaublich, wie der Franzose mit gerade mal zwei Keyboards, zwei Drumpads, einem Theremin und etwas Elektronik handgemachten Techno produziert, der das komplette Publikum in eine tanzende Masse verwandelt. Absolut faszinierend und ein krönender Abschluss eines langen Festival-Tages.
Am Sonntag lassen wir es etwas gemächlicher angehen. Nach den sympathischen lokalen Acts Luva und Niklas Blumenthaler im Parcours d’Amour wird das erste Highlight des Tages wieder mal im Hüttenzelt gesetzt: Von der Belfaster Noise-Jazz-Combo Robocobra Quartet, die trotz meines Schauderinstruments Sopransaxofon eine einzigartige und mitreißende Mischung aus lakonischem Sprechgesang, jazzigen Soli, ungeraden Rhythmen und gewaltigen Noise-Eruptionen produziert. Gleichzeitig extrem fordernd und höchst unterhaltsam.
Die Australier Rolling Blackouts Coastal Fever bringen auf der Open-Air-Bühne gut abgehangenen Rock über die Bühne, im Parcours d’Amour verzaubert die britische Songwriterin Eve Owen ihr Publikum, im großen Zelt feiern die leicht an Bloc Party erinnernden Kennyhoopla eine College-Party, während die Dada-Trash-Noise-Rock-Punker Dÿse mal kurz das Hüttenzelt abreißen.
Auf der Open-Air-Bühne geben sich derweil die Australier:innen die Klinke in die Hand. Die Proll-Punkrocker Amyl & the Sniffers liefern ihr übliches überkandideltes Set und verwandeln den Vorplatz in einen staubigen und sonnendurchglühten Moshpit. Die rotzige Attitüde nutzt sich für mich allerdings zügig ab, hinter der durchgeknallten Show wird der letztlich doch sehr konventionelle Punkrock sichtbar.
Eine weit spannendere Frage wird dafür im Hüttenzelt beantwortet: Wie sieht’s bei Die Nerven aus nach ihrer üppigen Pause? Und ich kann feststellen: hervorragend! Der Gig ist genauso dicht und intensiv wie eh und je. Kaum eine Band nutzt die gesamte Bandbreite der Dynamik so aus wie dieses Trio. Der neue Titel „Europa“ fügt sich nahtlos in die Reihe der „alten“ Klopper ein, mit denen Rieger, Knoth & Kuhn das Publikum beglücken. Kurzum: ein Höhepunkt des Festivals!
Mit sommerlich-leichtem Pop setzt sich die australische Invasion im Parcours d’Amour fort: Everybody’s Darling Stella Donnelly wickelt mal kurz alle um den Finger. Mit unbändiger Energie und Charme, fröhlichen Melodien, hinterlistigen Texten und urkomischer Publikumsanimation bringt sie die gesamte Tribüne in Bewegung. Also nicht nur das darauf tanzende und hüpfende Publikum, sondern tatsächlich das Bauwerk.
Nach dieser Abschlussparty nutze ich Kings of Convenience nur noch als Hintergrundbeschallung und lasse vor der Rückfahrt nach Stuttgart, wo in den nächsten Wochen ein Konzert das andere jagt, das erlebte Revue passieren. Ein Fazit:
Dass in Berlin zeitgleich ein musikalisch ähnlich gelagertes Festival stattgefunden hat, hat dem Line-up kaum geschadet. Geschmackssicher gebucht und allen Diskussionen um Diversität weit voraus, hat das Derby wieder viele Entdeckungen und Überraschungen geboten. Arabisch beeinflusste Acts wie Arooj Aftab oder Taxi Kebab sind eine große Bereicherung und eventuell ein kleiner, erfreulicher Trend. Belfast scheint ein neuer Hotspot zu sein (Enola Gay, Robocobra Quartet). Das (nicht wirklich so benannte, aber üppig vertretene) „Gastland Australien“ hat nicht die Highlights des Festivals gesetzt.
Die Umstände für das Liebhaberfestival bleiben herausfordernd. Umso erfreulicher die heutige Nachricht, man möge sich den 16. bis 18. Juni 2023 „mit Bleistift“ in den Kalender eintragen. Wir sind garantiert wieder dabei!