PSYCH IN BLOOM FESTIVAL, TAG 1: 26.05.2023, Komma, Esslingen
Das Psych-in-Bloom Festival-Banner weht einem freundlich entgegen, bereits der kurze Weg entlang am Esslinger Komma ist mit Papp-Artefakten geschmückt, verziert mit Mustern aus dem Festival-Logo. Die Zeichen stehen gut, dass hier wieder ein Festival mit Herzblut gestaltet und organisiert wird. Die Abendstimmung bei frühsommerlichen Temperaturen im Innenhof wirkt ausgelassen. Gig-Blog-Kollege Holger hat bereits zwei Bands Vorsprung am Festivaltag 1.
– Sabine
Gaisma & the Dolphins
Pünktlich zum Beginn des ersten Festivaltages stehe ich im schon ganz ordentlich gefüllten großen Saal des Komma und staune erstmal über die Ausstattung. An drei Seiten erstrecken sich riesige Leinwände, an der Decke hängen fünf fette Beamer und hinter den Mischpulten sind in einer zweiten Ebene die Lichtkünstler:innen postiert. Und das ist beim Eröffnungsgig von Gaisma & the Dolphins das Team von Liquid Lisa. „Angewandte Psychedelik“ ist ohne visuelle Unterstützung nur halb so psychedelisch, deshalb werden die Lichtkünstler:innen im Programm auch jeweils explizit ausgewiesen. Das Equipment von Liquid Lisa sieht aus, als habe sie den Technikraum eines aktuell ausgestatteten Gymnasiums geplündert. Tageslicht-, Dia- und Film-Projektoren stehen auf der Empore und Lisa & Co. zaubern mit riesigen Uhrgläsern, Folien und diversen farbigen
Flüssigkeiten faszinierende Ornamente auf die Rückseite der Bühne. (Dass alle Besucher:innen eine Brille mit psychedelischen Effektfiltern bekommt, ist ein weiteres liebenswertes Detail des Festivals, angesichts der großartigen Lightshows aber nicht unbedingt erforderlich.)
Davor agiert die lettische Künstlerin Alisa aka Gaisma im seltenen kompletten Band-Setup. Unter den Dolphins, die sich aus lokalen Musiker:innen rekrutieren, erkenne ich Paul Schwarz am Schlagzeug. Mit ihrem sommerlichen, leicht souligen Pop und großartiger Stimme präsentiert Gaisma einen wunderbar soften Einstieg in das Festival. Und während ich noch darüber sinniere, was eigentlich das Psychedelische an dieser Musik ist, liefert sie mit einer ausgedehnten Version ihres bekanntesten Songs „Organic Muesli“ einen eindrucksvollen Ausflug in die Motorik des Neo-Kraut, der nicht nur diese Frage beantwortet, sondern auch gleichzeitig ein perfekter Abschluss ihres überzeugenden Auftritts ist.
– Holger
VED
Hinein in den dunklen Saal, Festivalbier besorgen, versehen mit dem Festival-Logo, Fotograf Armin steht auch parat. In der Mitte der Bühne ragt das glänzende Bariton-Saxofon, auch ein Megafon ist zu sehen. Wird diese Kombination zusammenpassen? Sie wird.
VED spielen auf der Mainstage. Mathias Nihlén scheint das Mastermind der Band aus Schweden zu sein. Mit dabei sind vier weitere Musiker. Mathias Nihlén ruft immer durchs Megafon, es ist mehr ein Lautieren als Gesang. Der Saxofonspieler baut ordentlich Zwerchfellspannung auf, immer wieder entlockt er seinem Instrument redundante Klangschleifen. Mit den Drums zusammen bildet sich ein durchgehender Grundrhythmus, mit lässig gespielter Leichtigkeit. Psychedelic und Noise vermischen zu einem Wohlklang.
Dem Saxofonisten rinnt der Schweiß unter seinem Cap runter. Hat das Saxofon als solches nicht so keinen guten Stand bei mir, nehme ich alles zurück, finde es faszinierend, seinem Spiel zuzuschauen; und dass die free-jazzigen Passagen in den Songs nicht zu quäkend sind. Im Gig- Blog Q&A hat Mathias Nihlén VED so beschrieben
Art rock with funny sounds and improvisation.
So hört sich das alles also an.
Am 5. Juni wird ein neues Album veröffentlicht. Das Release-Konzert ist in Malmö. Vielleicht eine Gelegenheit zu einer Reise in den schwedischen Midsommar.
– Sabine
Setliste VED
Embrace of the Oarfish
Ett Visst Fängelse
Retroactive Premontion
Det Länga Straffet
Kant Crossing The 7 Bridges of Königsberg
Demis Roussos Internal // Icelamp
StöRenFrieD
Alwin Weber aka StöRenFrieD wird uns im Laufe des Festivals nochmal begegnen. Heute steht er auf der „Drone Stage“ und präsentiert Experimentelles aus einer Vielzahl analoger und synthetischer Gerätschaften. Da werden selbst die elektromagnetischen Felder der Netzgeräte hörbar gemacht, da trifft Noise und Gefrickel auf gebrochene Beats, das Ganze kongenial illuminiert von den Lichtkünstlern qwertu, die urbane Szenen künstlerisch verfremden.
– Holger
Julie’s Haircut
Nach dem tiefen Eintauchen in die Klangwelt von VED heißt es nun wieder auftauchen. Nach VED kann man abbiegen zu StöRenFrieD in die „Drone Stage“ oder raus auf den Hof in die Helligkeit. Entscheide mich für zweites. Frische Luft schnappen, um Gehörtes setzen zu lassen. Es fühlt sich wie nach einem Kinobesuch an, wenn man im ersten Moment verspult draußen ins Helle tritt. Im Innenhof herrscht eine ausgelassene Stimmung, das Publikum wirkt recht durchgemischt.
Zurück in den Saal zu Julie’s Haircut. Die italienische Band kommt aus der Provinz Reggio Emilia. Wie Gig-Blog-Kollege Lino erfahren hat, sind sie vom Hochwasser nicht betroffen. Die Musiker sind dezent in Schwarz gekleidet. Die Sonnenbrille, die Gitarrist Luca Giovanardi trägt, scheint eher eine Notwendigkeit als ein Accessoire zu sein. Das Geheimnis wird zum Ende des Konzertes gelüftet.
Die Visuals zum Konzert, gestaltet von Bumzacklicht, sind in dunklem Blau gehalten. Abstrakte Schattenbilder bewegen sich über die Leinwände. Am Anfang wirken die Songs für mich noch recht poppig. Ist es vielleicht nur noch der Nachgeschmack vom VED Konzert? Dieser Eindruck legt sich, einmal Reset und Treiben lassen von der Farb-und Klangwelt von Julie’s Haircut. Das Quintett spielt mit der Klaviatur eines tiefergelegten Synthie- und Electronic-Sounds. Nach dem Konzert komme ich mir wie eine unzulässige Zeugin vor. Waren es mehrere Songs, die gespielt worden sind, fühlt es sich wie ein großes Ganze an, das sehr sphärisch und organisch anmutet. Nochmal so ein Ritt oder wie Julie’s Haircut auf ihrer Bandcamp-Seite schreiben:
Don’t read these words, listen to the music.
Stimmt.
Wäre noch herauszufinden, was es mit dem Wohnwagen auf sich hat, der auf dem Innenhof steht, vor dem ein junger Mann mit Flamingo Hut sitzt. Vielleicht schaffe ich es an Festival Tag 3 herauszubekommen. Erstmal die ganzen Klänge und Eindrücke von Festivaltag 1 verarbeiten.
– Sabine
Kiki Bohemia & Sicker Man
Nach fünf Stunden eng getaktetem Festivalprogramm setzt bei mir erste musikalische Sättigung ein und ich ahne nicht, dass ausgerechnet hier auf der kleinen Bühne das Highlight des ersten Festivaltages auf mich wartet. Das Setup von Kiki Bohemia & Sicker Man sieht vielversprechend aus. Auf einem Stativ steht ein fünfsaitiges Elektro-Cello, auf dem Boden liegen zwei derart ausladende Pedalboards, dass ich mich frage, wo hier überhaupt noch die Band stehen soll. Was mit mächtigem Drone beginnt, steigert sich im Laufe des Sets zu einem immer heftigeren Dialog zwischen massiv rhythmischem E-Bass und dem Cello oder einer E-Gitarre.
Da wird geloopt, verzerrt und moduliert, dass es eine wahre Freude ist. Die Beats werden immer zwingender, stilistisch bewegen wir uns inzwischen Richtung Krautrock, Industrial, EBM und Postpunk. Die Intensität scheint auch im Hof spürbar zu sein, denn die kleine Veranstaltungsstätte füllt sich zunehmend. Tanzbewegungen sind in der Enge kaum noch möglich, die Begeisterung ist aber mit Händen zu greifen. Die Band scheint überwältigt vom Zuspruch und spendiert noch eine Zugabe. Keine Frage: Dieser Auftritt hätte auch locker für die große Bühne gereicht. Und dem spontanen Lob von Kiki Bohemia, dass dies das schönste und bestorganisierte Festival sei, auf dem sie bisher gewesen sei, schließen sich alle gerne an.
– Holger
Weltraum
Weltraum begrüßt den neuen Tag
Das Kollektiv Weltraum tritt gegen 0 Uhr an. Der Name lädt ein zu allerlei Wortspiel, welchem ich mich zu so später Stunde genussvoll hingeben möchte, Zündung startklar…
Weltraum, unendliche Weiten aus Soest, NRW, steuert seit über 20 Jahren durch den Space Rock und begeistert mit zeitlosem Psychedelic. Die Crew besteht derzeit aus Dennis Gockel – Drums, Boris Mihatsch – Gitarre, Sebastian Widjaja – Gitarre und Dora Gockel – Bass. Steuermann Taavi Wenk bedient zentral die Synthesizer. Aufgrund von Übertragungsinterferenzen gelingt es nicht, den Namen der Dame an der dritten Gitarre rechts auf der Bühne zu empfangen, sie muss aber schon lange an Bord sein, sie fordert selbstbewusst:
Ich hätte gern ein Glas Sekt.
Auf der Reise durchs All umkreisen sie die planetarischen Verstärker Mars, Blackstar, Sunn O))), Fender und gleich viermal Orange. Die Navigationsgeräte Korg, Moog und Nord Lead steuern den Sonnensturm, den extrem dichten Sound. Unaufhörlich wird an den Drums im Maschinenraum gearbeitet… Bei der Umrundung der 0 Uhr 45 Marke wird ganz, ganz langsam das Tempo angezogen, kaum wahrnehmbar, aber dennoch, es wird über 10 Parsec-Minuten kontinuierlich auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt… Nur mit einem eingespielten Kollektiv lässt sich solch eine Leistung erreichen, ein galaktisches Reiseerlebnis.
Visuell werden wir begleitet von qwertu und Formfaktor. Wir reisen durch abstrakte Farbfelder, durch kreisende Quadrate und qreisende Kuadrate. HAL 9000 hätte seine Freude daran, wir im immer noch gut gefüllten Saal allemal.
Weltraum schließen den ersten Tag des Festivals für angewandte Psychedelik. Danke, dass wir Anhalter mit Weltraum, qwertu und Formfaktor durch die Galaxis reisen durften. Mit Weltraum kann wieder beim Burg Herzberg Festival gereist werden, wir schweben dem zweiten Tag Psych In Bloom entgegen.
– bertramprimus