EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, DIE NERVEN, 21.06.2022, MHP Arena, Ludwigsburg
Harte Worte, mit denen mir ein alter Konzertfreund mir seine Absage für dieses Konzert whatsappte:
„Wahrscheinlich geben 95% der “Fans” nur vor, die Neubauten gut zu finden – weil die nämlich mittlerweile ein sakrosanktes, alternativ-bildungsbürgerliches deutsches Kulturgut sind und man sich unweigerlich verdächtig macht, ein ignoranter bildungsferner Banause zu sein, wenn man/frau die Neubauten scheiße findet oder auch nur kritisiert… Es könnte aber durchaus auch sein, dass das prätentiös-manierierte Kunstscheiße ist, was Blixa da mit seinen Mitstreitern treibt… 😉“
Oha! Mal sehen, wie ich mich da noch den musikalischen Titanen Einstürzende Neubauten nähern kann, ohne in die Ehrfuchts-Falle zu tappen. Auch wenn ihr Frühwerk exakt in meine musikalische Prägungsphase der Adoleszenz fiel, und ich mich gut erinnere, dass mich die gewalttätigen Krachexperimente fasziniert haben, so haben sich Blixa Bargeld und seine Kollegen doch nie wirklich in meiner musikalischen Welt festgesetzt. Erst vierzig Jahre später komme ich mit dem aktuellen Album „Alles in Allem“ etwas näher in Kontakt und nun – mit gewaltigen Bildungslücken – sogar zu einem Konzert. Letztlich wird der Abend in der MHP Arena aber – soviel sei verraten – weit weniger fordernd ablaufen als erwartet.
Die Multifunktionshalle bietet einen nüchternen Rahmen, eignet sich aber doch besser für Konzerte, als ich erwartet hätte. Die Halle ist kompakt genug, um von überall gute Sicht auf die Bühne zu haben, der Sound ist äußerst transparent und kann, wie das Finale zeigt, auch sehr laut werden. Das Konzert findet als Teil der „Ludwigsburger Schlossfestspiele“ statt. Dass der Innenraum bestuhlt ist, passt durchaus zum Programm der Einstürzenden Neubauten, das zu weiten Teilen ein eher getragener Chansonabend werden wird. Nicht aber zur Vorband, unser aller Lieblings-Krach-Trio Die Nerven. Denn deren Auftritte führen regelmäßig zu einem wilden Ritt auch vor der Bühne.
Punkt acht entern Rieger, Knoth & Kuhn die Bühne und liefern ziemlich genau das Set ab, das wir vor zehn Tagen auf dem Maifeld Derby im schwitzig-staubigen Hüttenzelt gefeiert haben. Hier findet aber alles unter seltsam klinischen Bedingungen statt. Die Luft ist lupenrein, die Fernsicht brillant, kein Hauch von einem Nebel unterstützt die Lightshow, das Publikum ist auf den Sitzen festgetackert. Der Sound so klar, dass ich Verzerrungen aus Knoths Bass-Verstärker höre, die mir bisher verborgen geblieben waren. Das ist aber alles nichts, was die drei davon abhalten könnte, das bekannte Wechselspiel in Lautstärke und Tempi so gekonnt von der Bühne zu knüppeln, dass meinem Nebensitzer, der die Nerven zum allerersten Mal sieht, das ungläubige Staunen ins Gesicht geschrieben steht.
Als dann Kevin Kuhn das Publikum mit Gesten animiert, doch bitte aufzustehen, bekommt das Ganze auch vor der Bühne etwas mehr Bewegung. Die Intensität des 2018er-Gigs in der Manufaktur kann so natürlich nicht erreicht werden, aber soll vermutlich auch nicht. Man möchte dem Main Act ja nicht die Show stehlen. Dennoch lasse ich in der Umbaupause ein mittelwitziges „Besser wird’s heute nicht mehr“ fallen und hoffe insgeheim sehr, dass ich eines Besseren belehrt werde.
Um neun betreten die sechs Herren die nun deutlich größere Bühne. Blixa Bargeld im dezent glitzernden Nadelstreifen-Dreiteiler, mit raffiniertem Makeup, barfuß und gut schulterlang offen getragenem Haar (was den begleitenden Gig-Blog-Kollegen zu einem begeisterten „Oh, Patti Smith“-Ausruf verleitet). Der Abend beginnt etwas getragen mit „Wedding“ vom aktuellen Album. Dieses wird mit zehn Titeln im Laufe des Abends in Gänze gespielt, die restlichen acht Titel stammen mit einer Ausnahme alle von Alben, die nach 2000 entstanden sind, was der begleitende Neubauten-Frühwerk-Kenner mit einem enttäuschten „alles nach ihrer relevanten Phase“ quittiert. Mir gefällt das Dargebotene jedoch gut. Die Songs sind melodiös, geradezu eingängig, die Lyrics tiefgründig geraunt. Die Bestuhlung für den intensiveren Kunstgenuss ergibt hier durchaus Sinn.
Nach zehn Minuten lässt der sichtlich genervte Frontmann einen übereifrigen und störenden Fan vom umstehenden Publikum entfernen. Eine Aktion, die John Lydon vor einigen Jahren in Ludwigsburg übrigens noch selbst mit dem Mikrofonständer erledigt hat. Ab diesem Moment gibt sich Bargeld dann aber auch gesprächiger, erläutert den ein oder anderen Song oder plaudert mit Bandmitgliedern und Publikum. Da hat man durchaus den Eindruck, dass dieses Monument der Avantgarde-Musik auch nahbar sein kann.
Beim Hören des Albums kam ich übrigens an keiner Stelle auf die Idee, mit welchem unermesslichen Materialeinsatz die Plings und Plongs, das Zischen und die Perkussionsparts erzeugt werdem. Klar, das sind die Neubauten, die immer mit einem kompletten Baumarkt anrücken. Aber es ist auch klar und in heutigen Hörerwartungen verankert, dass all dies genauso mit wenigen Samples und etwas Elektronik produziert werden könnte. Und teilweise auch so produziert werden muss. Die Band ist nämlich um einen Keyboarder erweitert, der „alles, was wir nicht mitbringen konnten“, wie z.B. Streicher, aus der Retorte abruft.
Aber gerade wegen dieses ikonisch gewordenen Sammelsuriums aus Einkaufswagen, Entwässerungsrohren, dem Inneren einer Turbine, Bohrmaschinen und vielem mehr, ist das Gebotene eben weit mehr als nur ein Konzert. Es ist eine Kunst-Performance, ein Happening, das vermutlich sogar über die reine Musik herausgehende Deutungsebenen hat. Und das der Show auch eine ähnlich museale Aura gibt, wie sie Kraftwerk-Konzerte haben. Eventuell doch ein wenig „Prätentiös-manieriert“? Auf jeden Fall anachronistisch-museal. Dabei sind die Songs selbst wirklich gut und überragen die meisten mir bekannten Songwriter. Sie wirken auch ohne das ganze Lametta drumherum.
Kurzum: Ein Abend mit einer mutigen Kombi aus zwei Performances, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Mein Wunsch, die beiden Bands wiederzusehen, passt ganz gut zum aktuellen Zyklus. Die Nerven am liebsten wieder in zehn Tagen, die Einstürzenden Neubauten vielleicht in ein paar Jahren. Und eventuell kommt dann sogar mein alter Konzertfreund mit. 😉
Setlist
Wedding *)
Möbliertes Lied *)
Nagorny Karabach
Die Befindlichkeit des Landes
Sonnenbarke
Seven Screws *)
Grazer Damm *)
Alles in Allem *)
Zivilisatorisches Missgeschick *)
How Did I Die?
Am Landwehrkanal *)
Ten Grand Goldie *)
Susej
Taschen *)
La Guillotine de Magritte
Tempelhof *)
Rampe
Let’s do It a Dada
*) Vom Album „Alles in Allem (2020)
Die Kritik ist in den meisten Aspekten zutreffend. Die Einstürzenden Neubauten haben sich schon vor langer Zeit von ihrer Frühphase verabschiedet – wäre auch ein umfassendes Publikum gewesen. Ein Schelm würde vielleicht sogar sagen,dass eine Helene-Fischerisierung der Neubauten mitunter zu spüren war.
wo ist die Setlist der NERVEN?
würde mich freuen, die hier auch noch zu sehen, gehört einfach dazu.
es war früher so, heute auch und morgen, die Einschätzungen zu Bands.
Die whats-Nachricht liest sich wie „gefangen im eigenen Kosmos“.
Schade sich dem Heute zu verschließen.
Sorry, RWD, im Eifer des Gefechts keine Setlist der Nerven erfasst. Vielleicht kommt ja noch eine bei Setlist.fm.
war wirklich enttäuscht. Mir geht es nicht um den Stil von früher oder heute. Allerdings hat sehr viel Seele gefehlt. Was glaubt er was er ist. Arrogant. Das er aus dem Publikum als Spießer und Arschloch beschimpft wurde fand ich passend
Also arrogant ist was anderes.
Enttäuscht – das ist subjektiv.
Spießer und Arschloch waren als Provokation gedacht.
Jeder dem es nicht gefiel konnte in den Sommerabend rausgehen.
Der ein oder andere machte diese Luftveränderung.
Bin bis zum Schluß geblieben und das war es auch Wert.
Mit eurem guten Kontakt könnt ihr ja bei den Nerven wegen der songs nachfragen.
Bei setlist steht nicht drin.