DIE NERVEN, 27.04.2018, Manufaktur, Schorndorf
Als ich 2015 angesichts der medialen Omnipräsenz der Nerven rummaulte „Oh Mann, was soll man eigentlich noch über Die Nerven schreiben?“ konnte ich ja nicht ahnen, das dies noch gar nichts war, verglichen mit dem Medien-Hype, den die Nerven drei Jahre später mit ihrem neuen Album „Fake“ auslösen sollten. Keine Gazette, kein Feuilleton, kein Blog und kein Kultur-Magazin, in dem das neue Album nicht mindestens zum besten, wichtigsten, unbedingtesten deutschen Album aller Zeiten erhoben und jeder Gig zum besten des Jahres gekürt wird. Der Konsens ist schon fast beängstigend. Da wird es verdammt eng für den kleinen Lokal-Blogger. (Der sich eigentlich mal vorgenommen hatte, über keine Band zwei Mal zu schreiben und nun über dem dritten Nerven-Bericht brütet)
Vielleicht eine gute Idee, all diese Hysterie – die ohnehin nur von irgendwelchen suspekten Algorithmen so massiv in meine Timeline gespült wird – einfach zu ignorieren und sich auf die Beschreibung dessen zu beschränken, was ich hier und heute in der Manufaktur erlebe. Ausverkauft ist der Laden natürlich. Und das Publikum ist wahrlich bunt: Fans und Weggenossen der ersten Stunde („Ich fand die schon toll, als sie noch richtig scheiße waren“), junge Partypeople bis hin zu silbergrauen Altrockern und Feuilleton-Lesern. Keiner, der mitreden will, kann es sich leisten, diesen erwarteten Konzerthöhepunkt zu verpassen.
Und schon die Eröffnung der noch weitestgehend unbekannten 2-Mann-Kombo Die Hälfte setzt ein massives Ausrufungszeichen. Philipp Knoth am Schlagzeug und Bassist David Eibeck produzieren mit ihrer Minimalbesetzung einen extrem markanten Sound, irgendwo im Spannungsfeld zwischen Postpunk und Postrock mit verfrickelten Bass-Läufen, die schon fast etwas krautrockiges haben. Selten einen derart abgeschossenen Bass-Sound gehört. Die Effekte sind schräg, die Soli beeindruckend virtuos. Das Publikum ist begeistert, ich bin es auch. Man darf gespannt sein, wie es hier weitergeht. (Gradmesser für den sich sicher einstellenden Erfolg: mit dem Suchbegriff „Die Hälfte“ auf Platz 1 bei Google, so wie z.B. „Die Nerven“. Aktuell ist das Duo noch ungooglebar)
Nun also: Die Nerven. Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn sind nicht zu beneiden. Die hohen Erwartungen im Saal, die Spannung ist mit Händen zu greifen. Die Leute drängen nach vorne, die Wildentschlossenen machen sich bereit für den Exzess. Und schon mit den ersten Takten wird klar: Dies sind nicht die Nerven, wie wir sie bei ihrem letzten Auftritt im Universum gesehen haben. Was ich dort noch mit Distanziertheit beschrieben habe, ist einer maximalen Präsenz gewichen. Die drei sind – in ihrer typischen, engen, einander zugewandten Aufstellung – dennoch massiv aufs Publikum orientiert. Hier wird Blickkontakt aufgenommen und mit dem Publikum geplaudert. Musikalisch ist der Vortrag makellos. Präzise, und ungeheuer druckvoll. Und vor allem: perfekt gemischt. Den aus Angst vor den Milberg’schen Lautstärke-Rekorden mitgebrachten Gehörschutz kann ich gleich wieder entfernen und stelle zu meiner Begeisterung fest: so gut haben die Nerven noch nie geklungen. Supertransparent, jedes gesungene Wort bestens zu verstehen. Kraftvoll, aber deutlich diesseits der Schmerzgrenze. (Später erfahre ich, dass die Manufaktur ein nagelneues digitales Mischpult hat und der Analog-Fetischist Ralv Milberg ironischerweise ausgerechnet mit dieser Maschine den besten Nerven-Livesound ever produziert)
Erwartungsgemäß besteht das Programm zum größten Teil aus Titeln des Fake-Albums. Und die funktionieren live bestens. Ein Moshpit hat sich bereits nach wenigen Songs gebildet. Dort geht es nach meinem Geschmack unpassend aggressiv zur Sache, als Verstärker für die von Bühne ausgehende Energie hat er aber eine gute Wirkung. Selbst in der letzten Reihe der Galerie sei die Wucht des Auftritts ungebremst zu spüren gewesen, höre ich. Das effektvoll von hinten beleuchtete Schlagzeug wirkt dabei wie der Kern eines kurz vor der Schmelze stehenden Reaktors. Kevin Kuhn behält trotz zunehmender Euphorie alle Kleidungsstücke dort, wo sie hingehören. Und Julian Knoth unterstreicht seinen fulminanten Bass-Einsatz mit eckigen Spasmen, die an David Byrne erinnern (wobei sich Knoth optisch eigentlich eher Jerry Harrison annähert).
Die bemerkenswerteste Veränderung glaube ich allerdings an Gitarrist Max Rieger zu beobachten. Als ob er die leichtere Zugänglichkeit des aktuellen Nerven-Werkes unterstreichen wolle, gibt er sich betont aufgeräumt. Er, der früher gerne mal aneckte, Publikum oder Mischer beschimpfte und häufig abweisend und übellaunig wirkte, gibt heute den überaus charmanten und äußerst präsenten Schwiegersohntyp. Raffiniert – denn umso heftiger wirken dadurch die Ausbrüche, die viele der Songs mitbringen.
Und so sehr ich mir auch vorgenommen hatte, mich nicht von der kollektiven Nerven-Euphorie anstecken zu lassen, letztlich werde auch ich von dieser Mischung aus maximaler musikalischer Intensität und selbstverständlicher Brachialität mitgerissen. Kein Zweifel: Vieles in der aktuellen Welt ist „Fake“, die Nerven sind es definitiv nicht. Wie konstatierte ich 2015? „So können wir trotz aller Euphorie beruhigt feststellen: die Nerven haben noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht. Da geht noch mehr.“ Diesen Satz würde ich unter den heutigen Konzertbericht nur zögerlich schreiben. Nicht, dass ich denke, Kuhn, Rieger, Knoth hätten den Zenit erreicht. Es fehlt mir einfach nur die Vorstellungskraft, dass das heute Erlebte noch steigerbar wäre.
Ah! Ich fand den Sound am Mittwoch auch bestens, besser denn je. Dann ist das jetzt erklärt!
Klasse Bericht – genauso habe ich es auch empfunden – das war von Anfang an so ein Brett – bin immer noch sprachlos – bis nächstes Mal….
Danke für den Bericht. Das mit dem googeln über die Hälfte hatte ich schon vor dem Auftritt versucht. Leider nichts zu finden, außer dem Clip bei YouTube.
Es wäre super, wenn ihr die Titel recherchiert hättet, die DIE HÄLFTE in der Manufaktur spielten.
Bei den NERVEN waren wir schon vor drei Jahren, ja und sie haben nichts an Kraft verloren und die Reise ist noch nicht zu Ende.
Auch hier wäre eine Liste der gespielten Songs toll gewesen, weil man dann das gesehene Konzert nacherleben und abrunden kann. Irgendwie gehört es einfach dazu.
Niemals
Frei
Albtraum
Shine On You Crazy Diamond (Parts I-V) (Pink Floyd cover) (Tease)
Barfuß durch die Scherben
Aufgeflogen
Der Einzige
Roter Sand
Explosionen
Dreck
Blaue Flecken
Der letzte Tanzende
Angst
Encore:
Eine Minute schweben
Encore 2:
Fake
Nie wieder scheitern
Danke für die Titelliste!!!!
Opener war vor „Niemals“ noch „Neue Wellen“