WE STOOD LIKE KINGS „USA 1982“, 05.07.2019, EAW-Hallen, Esslingen
Die fünf Akte vergehen im Nu, der akustisch-visuelle Impact ist überwältigend. Seit Koyaanisqatsi mit der Musik von Philip Glass habe ich kein ähnliches Kino-Erlebnis mehr gehabt. Vielleicht ist es ja genau das, wofür das Genre Postrock erfunden wurde.
Das schrieb ich 2015, als ich versuchte, das Phänomen We Stood Like Kings mit seinen Postrock-Soundtracks in Worte zu fassen. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sich die vier Belgier tatsächlich mal an den Klassiker Koyaanisqatsi heranwagen würden. Und nun, vier Jahre später stehen sie in den Esslinger EAW-Hallen und präsentieren genau diesen.
Obwohl mich die Vertonung von Ruttmanns Stummfilmklassiker „Berlin – Symphonie einer Großstadt“ damals begeistern konnte, bin ich heute doch skeptisch. Können die vier Musiker in einem Vergleich mit Philip Glass nicht nur verlieren? Ich erinnere mich noch sehr gut, wie mich der Film 1983 im alten Atelier-Kino umgehauen hat. Während sich fast alle Zuschauer Plätze im hinteren Drittel des Kinos suchten, saß ein junger Mann allein in der Mitte der ersten Reihe. Hinterher wusste ich warum und tat es ihm bei den nächsten Vorführungen gleich. (Keine Ahnung, wie oft ich den Film im Kino gesehen habe – und seine visuelle Sogwirkung genossen habe). Eine neue musikalische Welt wurde mir dabei übrigens auch eröffnet.
Aber nicht nur der Musik wegen stehe ich dem Wiedersehen nach 36 Jahren skeptisch gegenüber. In Zeiten, in denen wir wirklich jeden Film-Effekt gesehen habe, keine Produktion ohne atemberaubende Drohnenflüge auskommt und Youtube voll ist mit schwindelerregenden GoPro-Fahrten und spektakulären Timelapse-Videos – kann in diesen Zeiten Coppolas Koyaanisqatsi überhaupt noch visuell beeindrucken?
Der Rahmen für dieses Event könnte jedenfalls nicht besser sein. Die sonst kaum zugänglich Hallen der Königlich Württembergischen Eisenbahnwerkstätten in Oberesslingen werden aktuell von der Villa Merkel für die Sommerausstellung „Good Space“ genutzt. Und das Komma organisiert in diesem Rahmen zwei Konzerte im imposanten Industriedenkmal.
Nach einem Warmup-Gig der sympathischen Label-Kollegen Instrument aus München beginnen die vier Belgier um 22 Uhr mit ihrem Programm „USA 1982“. Fast eineinhalb Stunden werden sie nun nonstop und taktgenau zu dem hinter ihnen laufenden Film spielen. Es bleibt mir weiterhin rätselhaft, wie sich eine Band derart disziplinieren und dabei dennoch eine enorme Spielfreude ausstrahlen kann. Anders als bei der Ruttmann-Vertonung stehen sie auch nicht mehr ganz am Rand des Geschehens, sondern etwas selbstbewusster vor der Leinwand. Sogar den ein oder anderen auf den Film abgestimmten Beleuchtungseffekt gönnen sie sich.
Als dann die so gut bekannten Wüstenbilder beginnen und sich die Glass’sche Musik aus dem akustischen Gedächtnis melden will, setzt Keyboarderin Judith Hoorens mit „Holy Ghosts“ die eigenen Melodien dagegen. Leichtfüßige Läufe perlen minutenlang, bevor sie von Gitarre, Bass und Schlagzeug langsam aber unaufhaltsam zu einem breiten, sinfonischen Sound ergänzt werden. Spätestens hier ist Glass vergessen.
Je länger der Film in seiner bekannten Dramaturgie von elegischen Landschaftsaufnahmen zu Szenen der Landschaftszerstörung wechselt, sich hin zu Bildern hektischen Großstadt-Lebens und industrieller Hochleistungsproduktion entwickelt, umso mächtiger werden die Soundwände von We Stood Like Kings. Schon längst hat mich die ungewohnte Musik gepackt. Nicht nur, dass sie immer wieder verblüffend gut zu den Schnitten passt, sie kommt auch mit einem massiven Druck und in erstaunlich guter Soundqualität rüber. Geradezu brillant, wenn man das provisorische Setting in der riesigen Halle betrachtet.
Nur ein-, zweimal empfinde ich eine Diskrepanz zwischen Bild und Ton. Da kommt ein unerwartetes Crescendo, obwohl sich auf der Leinwand nichts Entscheidendes tut. In den allermeisten Szenen unterstützt die Musik die assoziative Bildsprache aber aufs Feinste. Erstaunlich übrigens, dass ich immer wieder Szenen in dem Film zu sehen glaube, die zu seiner Entstehungszeit noch gar nicht passiert waren. Nicht nur der Anschlag auf das World Trade Center schleicht sich aus dem visuellen Gedächtnis in die Filmbilder, auch der Challenger-Katastrophe von 1986 wird optisch vorgegriffen. Und als in der Schlussszene endlich das letzte Trümmerteil einer explodierten Rakete in Zeitlupe verglüht ist, stellt sich zuerst mal andächtige Ruhe in der Halle ein, bevor sich minutenlanger, begeisterter Applaus über die sichtlich erschöpften Musiker ergießt. Was für ein umwerfendes Erlebnis! Danke, Komma.
Danke, Holger.
Für mich das zweitbeste Konzert in 2019, hier stimmte von der Atmosphäre so gut wie alles.
Das zweitbeste? Ernstbert, das macht neugierig! (Ich persönlich kann es in meiner Hitliste gar nicht einsortieren, weil es wirklich einzigartig ist)
Bisher bester: Xiu Xiu am 16. März beim ‚Psych in Bloom‘. Das war auch einzigartig… ;-)
Die Keyboarderin erklärte später am Merch-Stand, dass alle Musiker In-Ear-Kopfhörer hätten, auf der eine durchgehende Tonspur mit Ansagen laufen „5-4-3-2-1-Crescendo“ etc.
Wunderschönes Konzert.
Aus dem Herzen sprechender Text.
Großartige Fotos mit den interaktiv wirkenden Motiven Band/Bild.