ABOUT POP, 22.07.2023, Im Wizemann, Stuttgart
(Holger) ich bin ja wahrlich nicht unerschrocken, wenn es um besonders intensive Events geht. Eigentlich kann es ja gar nicht heftig genug sein. Die fünfte Ausgabe der About Pop hat aber auch mich an meine Grenzen gebracht. 20 Konzerte und 63 Konferenzbeiträge in elf Stunden – da muss die Berichterstattung bruchstückhaft bleiben, und FOMO wird zum Dauerzustand. Chris und ich berichten zwar zu zweit, würden aber wohl für eine halbwegs vollständige Programmabdeckung das halbe Dutzend Gigblogger:innen benötigen. Die sind zwar vor Ort, aber leider irgendwie alle nicht „im Dienst“.
Schon der Start der Veranstaltung ist vielversprechend: Nach einem erstaunlich rockigen Auftritt des TikTok-Stars Mia Morgan – der von ihren Fans trotz seiner Kürze heftig gefeiert wird – gibt es anstelle langwieriger Reden eine kurze Vorstellung des Teams vom Popbüro. Danach ein kurzer, humorvoller Dialog mit Popkultur-Anekdoten der About-Pop-Moderatorin Kimsy von Reischach und dem lokalen Pop-Auskenner Ingmar Volkmann. Und schon können wir uns in das Programm stürzen, das über das gesamte Gelände des Wizemann verteilt ist. (Der Schrittzähler freut sich)
An vielen Details ist zu erkennen, dass das Event nach allen Regeln der zeitgemäßen Festivalgestaltung geplant ist. Musik- und Konferenzprogramm sind geschlechtergerecht und inklusiv besetzt, Barrierefreiheit wird großgeschrieben. Auffällig ist der große Anteil von Menschen mit Behinderungen, ein Awareness-Team steht permanent und jederzeit gut sichtbar zur Unterstützung zur Verfügung. Was aber ganz besonders ins Auge springt, ist das – auch im Vergleich zu den letzten Jahren – extrem diverse Publikum. Die Spannbreite der Altersklassen, Geschlechter und die sichtbare Zuordnung zu diversen Subkulturen haben wir in dieser Form bisher nirgends erlebt. Der Auftritt der Berliner Rapperin Babyjoy zieht eine Teilmenge davon, vornehmlich junge Besucherinnen in das Studio des Wizemann. Keine Frage: Mit ihren cleveren Texten in Deutsch und Französisch und ihrem selbstbewussten Auftritt ist Joy Grant aka Babyjoy nicht das schlechteste Role-Model für Teenager:innen.
Der Parkplatz an der Pragstraße ist die größte neue Location, die die About Pop bespielt. Und die funktioniert trotz ihrer ablegenen Lage erstaunlich gut. Das natürliche Gefälle ermöglicht guten Blick auf die Bühne, mit großzügigen Sonnensegeln und Liegestühlen wird eine freundliche Atmosphäre geschaffen. Auf der Bühne sehe ich am frühen Nachmittag den jungen Stuttgarter Post-Punk- und Dark-Wave-Künstler Themis. Mit solidem Joy-Division-Bass, einer engagiert aufspielenden Band und seiner sympathischen, authentischen Art legt er einen intensiven Auftritt hin, der meine Erwartungen weit übertrifft. Ich freue mich jedenfalls auf seinen nächsten Gig am 2.11. in der Dieselstraße.
Ob das jetzt die von Edwin Rosen definierte „Neue Neue Deutsche Welle“ ist, was das Hannoveraner Trio Steintor Herrenchor äußerst engagiert, aber technisch eher chaotisch über die Rampe schiebt, soll jede:r selbst einordnen. Die Annahme, dass sie – bei ihrem ersten Auftritt in Süddeutschland – niemand kennen könnte, erweist sich jedenfalls als falsch. Das Studio füllt sich derart, dass ein Einlass-Stop verhängt wird. Die, die drinnen sind, singen die meisten Songs lauthals mit. Und die Band mag ihr Glück kaum glauben.
Es bestätigt sich leider, dass wir fast die gesamte Konferenz verpassen, zu dicht und spannend ist das Konzertprogramm. So bekomme ich nur am Rande etwas vom Panel zu den Neunziger Jahren mit, wo neben Popkultur-Grandseigneur Jens Balzer auch die MTV-Ikone Simone Angel auf dem Podium sitzt. Auch das Panel zur Barrierefreiheit, bei dem kein Geringerer als Deutschlands bekanntester Behinderten-Aktivist Raúl Krauthausen referiert, rauscht an mir vorbei. Schade.
Zurück im Studio, komme ich gerade noch rechtzeitig zum Stuttgart-Debüt von Anika Henderson, der Wahlberlinerin mit Londoner Wurzeln, die mich mit ihren extrem reduzierten, kühl vorgetragenen, Minimal-Pop-Songs noch mehr abholt als vor zwei Jahren auf dem Maifeld Derby. Nicht unerheblichen Anteil hat daran ihre Bassistin Sally Brown (die wir aus der Liveband von Gurr kennen) mit ihrem reduzierten, aber sehr pointierten Bass-Spiel. Der oft bemühte Vergleich von Anika mit der geheimnisvollen Pop-Ikone Nico ist tatsächlich nicht zu weit hergeholt. Ein intensiver Gig.
Sicher auch eines der Geheimnisse, warum so auffällig viele, sehr junge Musikfans zur diesjährigen About Pop gefunden haben: die Verpflichtung des Local Heros Max Philipp aka Flawless Issues. Mit seinem an frühe NDW und New Wave angelehnten Sound trifft der voll den Zeitgeist (sagt man heute noch so, oder ist das voll Eighties?). Ich kann seinen Auftritt nur aus der Ferne erahnen, da der Club, der immerhin 600 Personen fasst, schon früh für weitere Besucher gesperrt werden muss.
(Christian) Alles ist schon geschrieben worden zur About Pop, nur noch nicht von allen – oder so ähnlich. Was soll man da auch noch ergänzen, wenn im Rückblick es einfach ein unglaublich beglückender Abend war, mit unglaublich vielen, beglückenden Begegnungen? Da verschwimmt schon mal der eine Post-Wave- mit dem anderen Dark-Wave-Act, ehrlich gesagt.
Um 19 Uhr stürze ich mich hinein ins Pop-Getümmel und alle, die ich in den ersten 30 Minuten treffe, wirken schon leicht durch den Wind ob all der Eindrücke. Kein Wunder, es geht Schlag auf Schlag und nach 45 Minuten habe ich den Eindruck, unfassbar viele tolle Dinge verpasst zu haben – was natürlich Quatsch ist, da die einzelnen, manchmal nur kleinen Begegnungen auf dem Wizemann-Areal mindestens so wichtig und fast noch schöner sind als die Entdeckung neuer Sounds.
Mareux aus Los Angeles ist mein musikalischer Auftakt und legt gleich mächtig los mit Verweisen auf die Musik vor 35 bis 40 Jahren. Vor allem der Snare- aber auch der Gesamtsound klingen nach West-Berliner Keller 1984, abgründig und dabei auch nach wenig Hoffnung. Das ist absolut tanzbar, aber mir persönlich zu wenig Abwechslung und wie es dann bei solchen Festivals immer ist, überwiegt der Drang zu schauen, ob der parallel spielende Act mir nicht doch etwas besser gefällt.
(Holger) Mir komplett unbekannt, aber schon allein wegen seiner gewagten Typografie interessant, ist das Elektro-Hyperpop-Duo Bęãtfóøt. Udi Naor und Sängerin Adi Bronicki aus Tel Aviv verbreiten aus dem Stand ein derart durchgeknalltes Techno-Geknatter, dass selbst hartnäckige Tanzverweigerer nicht mehr stillstehen können. Ihre wilde Mischung aus Brachial-Sound à la Die Antwoord, Gabber, Mickey Mouse und Kindergeburtstag auf Speed ist zweifellos eins der Festival-Highlights. Als wir um 20:00 Uhr verschwitzt und mit einem breiten Grinsen im Gesicht in den Innenhof treten, ist dieser so voll, wie ich es im Wizemann noch nicht gesehen habe. Es ist noch taghell, ich bin schon gezeichnet von den letzten sieben Stunden und habe noch vier weitere vor mir. Uff.
Und Eile ist geboten, denn der Auftritt der belgischen Postpunker Whispering Sons schließt nahtlos im Club an. Auch sie sind zum ersten Mal in Stuttgart und füllen den Club zu gut zwei Dritteln. Unklar, ob sie bei einem Einzelbooking ähnlich viel Publikum gezogen hätten, aber vielleicht motiviert es ja doch den ein oder anderen lokalen Veranstalter, auch mal solche Bands nach Stuttgart zu bringen. Was das Quintett um die faszinierende Sängerin Fenne Kuppens mit ihrem an Andrew Eldritch erinnernden Gesang produziert, ist an finsterer Intensität kaum zu übertreffen. Ein krasserer Kontrast als der zum Auftritt von Bęãtfóøt und ein eindrucksvollerer Beweis für die extreme Vielfalt zeitgenössischer Popkultur ist kaum denkbar. Fenne und ihre Kollegen ziehen mich derweil immer tiefer in den dunklen Abgrund ihrer Gefühlswelt. Für eine Stunde sind About Pop und FOMO vergessen. Das ist hier und jetzt und ein absolutes Highlight des Konzertjahres. Und die Boy-Harsher-Fans, die einen sichtbaren Teil des Festivalpublikums ausmachen, dürften hier auch auf ihre Kosten gekommen sein.
Nach diesen beiden musikalischen Grenzerfahrungen ist für mich erstmal kein weiterer Konzertbesuch denkbar. Zumal draußen im Hof so viele Leute sind, mit denen ich gerne ein Schwätzchen halten würde. (Eine weitere Konkurrenz zum Konferenzprogramm: das Familientreffen der Konzert-Nerds). Sehr schön auch, dass kaum ein:e Musiker:in nach dem Auftritt abreist und sich fast alle unter das Publikum mischen. Einer der wenigen Kritikpunkte: Wer jetzt von einem Hunger befallen wird, hat Pech gehabt, denn das Essen ist schon längst verputzt. Das sollte bei einem erfahrenen Veranstalter und Caterer nicht passieren.
(Christian) Sirens of Lesbos spielen auf der Open-Air-Bühne und begeistern mich vom ersten Moment an als ich die Treppen zum Sonnendeck hinaufgehe. Die Schweizer:innen kombinieren Soul, Pop, R’nB und Funk und das wirkt nicht zusammengeschustert, sondern wie aus einem Guss. Ein grandioser zweistimmiger Gesang prägt die toll arrangierten Songs, immer wieder ergänzt durch verschobene und gleichzeitig tanzbare Rhythmen. Da ist auch der Griff zur 80er-Jahre-Tanzfilm-Anleihe mit Halbtonschritt nach oben nur einen Song vom avantgardistischen Fusion-Pop entfernt und völlig selbstverständlich.
Agar Agar ist sowohl ein pflanzliches Geliermittel, das aus Algen gewonnen wird, als auch ein Pop-Duo aus Frankreich mit dem Hang zu opulenten Pappmaché-Bühnendeko, die in Teilen etwas an eine Geisterbahn erinnert. Die beweglichen roten Augen starren erbarmungslos auf die tanzende Menge, der ich mich teilweise erfolgreich versuche zu integrieren, was aber durch eine weitere Begegnung und den frühen Aufbruch zu den gleich nebenan aufspielen Die Nerven nur teilweise gelingt. Definitiv gelingt es mit dem Song „The Visit“, bei dem der Gesang einer klaren Melodieführung folgt und mir deutlich besser gefällt als die sirenenhafte Stimme, die sich oft über die elektronischen Sounds legt.
(Holger) Im Gig-Blog etwas über Die Nerven schreiben? Wohl kaum noch nötig. Nach dem ultimativen Gig im LKA ist praktisch alles gesagt. Trotzdem ganz lustig, die Nerven-Neulinge zu beobachten, von denen es auf der About Pop doch einige gibt. Dass Julian, Kevin und Max zuverlässig ein massives Brett abliefern, überrascht uns Nerven-Veteranen ja nicht mehr. Den Neu-Besuchern klappt dann aber doch die Kinnlade runter. Und zwei neue Songs haben sie für die Nerven-Ultras auch mitgebracht.
(Christian) Ebenfalls elektronisch und in die 80er katapultierend ist der Auftritt von Boy Harsher , dem Elektro-Post-New-Dark-Wave-Duo aus Georgia, USA, die im Keller nebenan von Mareux musikalische Heimat gefunden haben. Beats, Klänge und Gesang sind transparent dunkel und wer sich zu allen anderen Bands noch nicht verausgabt hat, findet hier den passenden Soundtrack, um sich abendlichen Trance zu tanzen, bevor alle glücklichen Gesichter sich wieder draußen treffen, um Sauerstoff tanken und erschöpft zu versuchen, die Gespräche zu führen, für die seit ca. 12 Stunden einfach keine Zeit war.
(Holger) Mein Fazit? Mit ihrer fünften Auflage hat die About Pop einen Quantensprung gemacht. Mit 2.000 Zuschauer:innen erstmals ausgebucht, hochrelevant, liebevoll gestaltet, mit einem top modernen Erscheinungsbild und professionell organisiert, hat sie Stuttgart nicht nur auf der Poplandkarte platziert, sondern auch mit einem dicken Ausrufungszeichen versehen. Für mich war es ein in jeder Hinsicht äußerst beglückendes Event und das Highlight im Konzertjahr. Jeder Euro Fördergeld ist hier gut angelegt, Kultur- und Wirtschaftsförderung sind hier keine Gegensätze, sondern ergänzen sich bestens und dürften sich auf lange Sicht auszahlen. Wenn die Ausweitung der nächstjährigen About Pop auf zwei Tage zu einer Entzerrung im Programm führen sollte, wird die Konferenz – zu meiner Freude – sicher am meisten davon profitieren. Ich habe mir den 17. und 18. Mai 2024 jedenfalls schon ganz dick im Kalender markiert.