SOMMERFESTIVAL DER KULTUREN, 11.-16.07.2023, Marktplatz, Stuttgart

Bereits seit 20 Jahren präsent, mit über 200 Bands, darunter 31 Grammy-Gewinner:innen und auch dieses Jahr wieder mit mehr als 80.000 Gästen. Und das alles ganz ohne Business Lounges. Wo zum Teufel finden eigentlich solche Festivals statt? Und vor allem: Können wir uns den Eintritt leisten? Die Antwort ist ebenso einfach wie erfreulich: Mitten auf dem Marktplatz und der Eintritt ist frei! Wir feiern es seit Jahren, das Sommerfestival der Kulturen, das Großevent des Forums der Kulturen und der Stuttgarter Migrantenvereine.

Pünktlich zur Eröffnung am Dienstag zum 18 Uhr sind wir vor Ort. Und wir müssen erstmal feststellen, dass alles etwas enger geworden ist. Wegen der Baustelle um den alten Marktplatzbrunnen ist die Bühne deutlich vorgerückt. Unser strategisch perfekter Platz zwischen Bühne, Infostand und Bierausgabe muss erst neu ermittelt werden. Und dennoch finden sich – wie jedes Jahr – die bekannten Gesichter ein.

Es ist ein Familientreffen mit bester Musik und wunderbarer Stimmung. Äl Jawala aus Freiburg, die als eine der Siegerbands aus dem Publikumsvoting hervorgegangen sind, spielen einen perfekten Eröffnungsslot. Zu einem Quartett geschrumpft, dafür wesentlich vielfältiger als früher, und immer noch so druckvoll, dass ihr wilder Ethno-Mix die Crowd trotz mörderischer 36 Grad in Bewegung setzt.

Roy Paci, sizilianischer Star und ehemaliger Manu Chao-Trompeter hat danach mit seiner formidablen Band Aretuska leichtes Spiel. Mit seiner Mischung aus südländischen Melodien, solidem Bläsereinsatz und offbeat-lastigen Rhythmen verwandelt er den Marktplatz in exakt das, was er auch in den nächsten fünf Tagen sein wird: ein fröhliche, bunte Party über alle Alters- und Kulturgrenzen hinweg.

Der Mittwoch – auch hier sind wir direkt nach Feierabend angerutscht – entpuppt sich als der Highlight-Tag des Festivals. Zwei Headliner-Bands stehen auf dem Programm und die japanische Cumbia-Kapelle Minyo Crusaders lässt uns komplett aus dem Häuschen geraten. Ihre unfassbar schräge, aber mit größter Präzision und viel Verve vorgetragene Mischung aus traditionellen japanischen Arbeiterliedern und lateinamerikanischen Rhythmen lässt jede Diskussion über „kulturelle Aneignung“ als das erscheinen, was sie (meistens) ist: komplett überflüssig. Das ist ein völlig neues Amalgam, das beiden Quellen ihre Identität lässt, nichts vereinnahmt und letztlich nur grenzüberschreitenden Spaß verbreitet.

Für die kongolesische Kombo Fulu Miziki, die wir bereits auf dem Maifeld Derby sahen, wo sie mittags um 12 ein etwas hüftsteifes Indie-Publikum nur wenig in Bewegung setzen konnten, sollte das Sommerfestival eigentlich ein ideales Betätigungsfeld sein. Und tatsächlich bringt ihr sperriger Afro-Techno aus Müllinstrumenten mehr Bewegung in das Publikum als in Mannheim, dennoch tritt die erwartete ekstatische Massenbewegung nicht ein. Vielleicht sind ihre permanent changierenden Rhythmen doch zu komplex für schwäbische Hüften. Egal: an ihren wunderbaren Masken und der wilden, leicht chaotischen Bühnenshow haben auch Rhythmus-Fremde ihren Spaß.

Dass Doctor Krápula, die kolumbianischen Superstars, binnen fünf Monaten zweimal in Stuttgart spielen würden, war wirklich nicht abzusehen. Dass die feierwütige kolumbianische Community, die im Februar im Jugendhaus Degerloch 98% des Publikums ausmachte, wieder vollzählig anrücken würde, das war allerdings keine Überraschung. Und dass die Show auf der großen Bühne nicht ganz so zünden würde, wie im schwitzigen, überfüllten Club, war auch klar. Dennoch entwickelt sich wieder eine wunderbare Fiesta mit großen Emotionen, viel Offbeat und üppigen Singalongs.

Drei überhitzte Festival-Tage hinterlassen ihre Spuren und wir müssen Freitag und Samstag sausen lassen. (Wir wollen uns gar nicht vorstellen, was wir alles verpasst haben.) Zum Abschlusstag sind wir aber fit und die australischen Flamenco-Rocker Opal Ocean spielen uns mit ihren wahnwitzig schnellen und unfassbar virtuosen Gitarrenduellen geradezu in einen Taumel. Als Straßenmusiker, die sie lange waren, sind sie mit allen Wassern gewaschen und wissen genau, wie man ein Publikum immer wieder in den Bann zieht. Auch, oder gerade wenn die minimale Besetzung und das spezielle Repertoire doch nur ein schmales musikalisches Segment abdecken. Das allerdings in einer Brillanz, dass gestandenen Guitareros in unserem Umfeld die Kinnlade runterklappt.

Wie jedes Jahr hat das Sommerfestival den Abschluss-Slot mit einem absoluten Schwergewicht der internationalen Musik besetzt. Dieses Mal ist es der brasilianische Poet, Musiker, Journalist und ehemalige Kulturpolitiker Chico César. Der Platz ist proppenvoll, die brasilianische Community hat Vollversammlung und der Gig beginnt schwungvoll mit Latin-Soul, Reggae und Rap-Einlagen. César hat eine beeindruckende Bühnenpräsenz, seine mit Bass, Schlagzeug und Keyboard eher schmal besetzte Band musiziert formidabel, lässt dem Gitarristen César aber reichlich Platz zur Entfaltung. Und wer hier leicht zu konsumierenden Latin-Pop erwartet, sieht sich enttäuscht. Da sind Ausflüge in den Jazz ebenso geboten wie ausgiebige Spoken-Word-Einlagen. Ein anspruchsvoller, aber absolut würdiger Abschluss für ein Festival, das wie kein anderes das multikulturelle Stuttgart von seiner besten Seite zeigt.

Äl Jawala

Roy Paci

Minyo Crusaders

Fulu Miziki

Doctor Krápula

Opal Ocean

Chico César