CHRIS IMLER, WHAT ARE PEOPLE FOR?, 14.01.2023, Merlin, Stuttgart
Heute Abend ist Auftakt der Pop Freaks Konzerte, schönster Termin auf Stuttgarts kleinen Bühne im Jahr. Dieses Mal wird es mit sechs Doppelkonzerten im Merlin angesetzt. Der Name Pop Freaks ist heute ganz wörtlich zu nehmen: wunderbare Freaks, die ihrer Pop-Leidenschaft frönen.
What Are People For?
… fragt die Kunst-Kombo (oder Cunst-Combo? Sieht irgendwie sexistisch aus) und nennen sich auch gleich so. Anna McCarthy (Kunst) und Manuela Rzytki (Musik) aus München kreuzen Pop und Performance und erinnern damit an Auftritten, die eher im Künstlerhaus oder im Theater Rampe stattfinden: die junge Dame in rosa Tüll und Anna McCarthy mit beeindruckendem Kopfschmuck und weißen Lederstiefeln, die an Schlittschuhe ohne Schlitt erinnern, singen und tanzen in ausdrucksstarken, ruhigen Bewegungen zur Musik, die Manuela Rzytki an Keyboard und diversen anderen Geräten erzeugt. Einziger Mann ist der Drummer, der sich sanft und genießerisch zur Musik im Sitzen bewegt.
Bei dem Pelzzylinder, der auf Anna McCarthys Kopf thront und von ihren langen, braunen Haaren gehalten wird, schießt mir Meret Oppenheimers Pelztasse in den Sinn. Und Nico, die Factory, frühe Blondie-Auftritte, das CBGB, Studio 54 usw. Dokumentarfilmwissen. Passenderweise heißt der Song dazu „Parallel World“.
Bei „Summer Of War“ krachen die Beats wie in alten Art-Of-Noise-Tracks (z.B. hier: Legs) aus den frühen 80ern. An anderer Stelle hören wir blubberndes Gebrummel, wie aus dem Draht von Wire. Post Punk. New Wave. Anna richtet ihren E-Bass einem Gewehr gleich auf die Zuschauer. Nur konsequent, sie kann ihn ohnehin nicht spielen, nur mit ihm.
Als Höhepunkt und Abschluss schmettern die drei Damen den Song „Bring Back The Dirt“. Betörend und zum Fürchten wie die The Weird Sisters aus Shakespeares Macbeth. Fast wären wir Zuhörer dem Untergang geweiht, da wird es noch richtig psychedelisch. Manuela traut sich die Loopmaschine anzuwerfen und rettet uns vor dem Sirenengesang … der Track hätte gerne zwölf Minuten anstatt sechs dauern können. What Are People For? dürfen gerne mehr ihrer eigenen Musik trauen.
What Are People For? For our sophisticated entertainment. We thank you.
Chris Imler
Es ist bereits kurz vor halb zehn, da wird der Laden noch mal richtig aufgetrommelt. Chris Imler steht vor seinem gemischt elektronischen und analogen Drum Kit. Mit seinen gezackten Augenbrauen mustert er bedrohlich das Publikum, sein Clark-Gable-Menjou überstreicht das diabolisch-schelmische Grinsen (dreimal laut fehlerfrei sagen!). Los geht das coolste Ein-Mann-Orchester.
Das nächste Stück könnt Ihr persönlich nehmen, müsst Ihr aber nicht: Fuck You All!
Imler, der stehende Trommler, minimalistisch wie Peter Behrens von Trio, hart wie das Duo DAF, drischt das alles solo. Proto-Techno mit Loopstation, die er mit immer mehr Claps füttert, einer anschwellenden Freak Wave gleich. Zwischendrin irritierend schmeichelnde Synthi-Chöre. Monotoner Sprechgesang.
Ich mess’ die Zeit in Katastrophen, die Skala ist nach oben offen.
Apropros Zeit: Seit Imler 1985(!) von Augsburg nach Berlin gegangen ist, hat er in etlichen Formationen mitgespielt. Es gehört zu einem Imler-Text dazu, diese kurz aufzuzählen und die Hälfte dabei zu vergessen, weil man (der Autor) das letztlich sowieso nur herbeigoogeln kann, also: Seine erste eigenen Band hörte auf den schönen Namen Golden Showers, dann klopfte er bei Driver & Driver, Die Türen oder Oum Shatt, war mit Jens Friebe, Peaches oder Maximilian Hecker auf Tour usw. usf.
Ich hab grad Bock.
Sein harter, düsterer Sound und sein ernster, humorvoller Auftritt begeistern das Publikum im Merlin. Mehrfach wird er zu Zugaben wieder rausgeklatscht. Sein Goldzahn widerspiegelt die Lichtreflexe, genauso wie der Lametta-Vorhang, vor dem er zuckt.
Ihr könnt nachher von mir die Zukunft vorausgesagt bekommen.
Chris Imler, Botschafter der Pop Freaks – großartiger Einstieg ins Konzertjahr 2023!
was für ein Text, was für Bilder! also ihr hattet auch Bock, sehr gut!
War ein starkerAbend! Tolle Rezension und großartige Fotos. Merci!
Hallo Leute !
naja, die Kritik ist sehr elegant und fundiert geschrieben, gar keine Frage – und die Geschmäcker sind halt verschieden. Kannte den Hr. Imler nicht und bin auch frühzeitig gegangen, nicht meine Musik also…
Daß „WAPF“ ihren Münchner – Geheimtipp- status bestätigt hätten ? (als Vorband, genau die Lieder der 1. Platte abliefernd, ne gute Dreiviertelstunde lang) ?
kann ich nicht behaupten.
Der orientalische Ausdruckstanz & die Kostüme waren ja nett, aber als Kunstprojekt für mich als Banausen genauso dürftig wie der Einsatz von Musikinstrumenten , der Drummer durfte nie zeigen, dass er was kann (war ja vielleicht gut, weil beim 1. Einsatz vieel zu laut für den Raum). Und getanzt oder sich auch nur ETWAS bewegt haben sich nur die 2-3 (mitgereisten fans?), die auch die Texte kannten …
Außer dem genannten letzten Stück gefiel mir echt gut, wenn die drei ganz unterschiedlichen Singstimmen gleichzeitig und gut harmonierend im Einsatz waren.
Fazit: sind wohl eine der bands, die auf Platte spannender klingen als live !
Aber danke für den Bericht und die starken Fotos !