10CC, 17.11.2023, Im Wizemann, Stuttgart
Ohgottohgott, wie fange ich es nur an? Wie kann ich einer so eklektischen, schwer zu fassenden und sogleich pophistorisch bedeutenden Band in einem Konzertbericht gerecht werden? Soviel in der Bandgeschichte dieser britischen Ausnahmegruppe erscheint erzählenswert. Fast jeder Song hat so viele Facetten, die allein schon zu beschreiben zu uferlosen, schwer lesbaren Traktaten führen würden.
10cc wurden 1972 gegründet und jeder der vier Gründungsmitglieder war auf seine Art und Weise ein begnadeter Songwriter und kompetenter Musiker, oft auch Multiinstrumentalist. Die Alben spiegelten dies in ihrem nur schwer zu kategorisierenden Musikstil wider. So kommt es, dass sowohl Prog-Fans wie Pop-Aficionados, als auch Classic-Rock-Hörer*innen die Band mögen. Wertvoller Hinweis: die Hipgnosis-Cover der Alben sind ebenfalls wundervolle Zeitdokumente.
Von besagten vier Gründungsmitgliedern hält Graham Gouldman 10cc noch am Leben. Durch das Komponieren der 60ies Hits „No Milk Today“ und „Bus Stop“ hatte er sich eigentlich schon vor der Gründung von 10cc verewigt. Schlappe 77 Jahre zählt der gute Mann, die man ihm absolut weder ansieht noch anhört. Als Lesetipp mit vielen Infos zu ihm als Musiker und seinen jüdischen Wurzeln sei der verlinkte Artikel empfohlen.
Der Saal ist gut gefüllt als es gegen 20 Uhr und damit dem Konzertbeginn zugeht. Die Mehrheit der Anwesenden hat die Schulzeit schon länger hinter sich gelassen. Arbeits- und Blog-Kollege Fabian ist die geschmackssichere Ausnahme jugendlichen Antlitzes und fungiert als statistischer Ausreißer, bzw. Kontrollgruppe. Der darf dann wie wir alle feststellen, dass die Verdunklung des Hallenlichts mit einem Song untermalt wird. Shazam sagt, dass es sich um „Son Of Man“ handelt, und die Internetrecherche, dass sich die Band was dabei gedacht hat, ausgerechnet diesen als Intro zu benutzen.
„The Second Sitting For The Last Supper“ aus dem „The Original Soundtrack“ Album von 1976 ist dann der erste Song. Der Sound ist sehr klar und die Lautstärke bestens austariert. 10cc-Novizen bekommen hier gleich mal einen guten Vorgeschmack, was die Musik der Briten so besonders macht. Könnte man nach den ersten Gitarrenriffs noch denken, dass es sich um Middle-of-the-Road-Rock handelt, ist man paar Minuten später schlauer. Es wechseln Tempo, Tonarten, ja auch Musikstile mühelos und spielerisch innerhalb eines fünf Minuten Songs. Das Quintett scheint keine Mühe damit zu haben, dies fehlerfrei aus dem Ärmel zu schütteln.
Der zweite Song „Art For Art’s Sake“ ist so eine weitere Pop-Prog-Miniatur. Wunderschön sind die drei- bis vierstimmigen Gesangsharmonien sowie der crispe Sologitarrensound der Fender Stratocaster von Rick Fenn. Innerhalb des Popsongsformats können sowohl Pink Floyd als auch Beach Boys Fans auf ihre Kosten kommen, während gleichzeitig zappaeske Ironie sowohl textlich als auch musikalisch untergebracht wird. Queens „Bohemian Rhapsody“ wird ja, zu Recht, aufgrund seiner Kombination aus kompositorischer Vertracktheit bei gleichzeitiger Popeingängigkeit abgefeiert. 10cc haben solche Songs aber im Dutzend.
in „Clockwork Creep“ glaubt man musikalisch einer Cabaret-Aufführung beizuwohnen. Gelegenheit an dieser Stelle Iain Hornal lobend hervorzuheben. Ich durfte ihn schon mal als Teil von ELO live sehen, aber in der kleineren Bühnenformation heute Abend kann er richtig glänzen. Neben Gitarre, Keyboard, Mandoline und was weiß ich noch ist er zu allem Überfluss ein hervorragender Sänger. Schwierigste Gesangpassagen werden nonchalant gemeistert. Ein paar Worte noch zum gesamten Auftreten der Band. Das ist ungemein sympathisch, geprägt sowohl von Ironie als auch Höflichkeit, beides britischer Prägung.
Ein richtiger Höhepunkt ist „Feel The Benefit„. Gekennzeichnet mal wieder durch zig verschiedene Parts, ist die melancholische Kraft dieses Songs umwerfend. Die Gesangsmelodien sind wunderbar, das Gitarrensolo erreicht auf der „Comfortably-Numb-artige-Soli“-Skala locker 9 von 10 Punkten. Das erdige „Wall Street Shuffle“ holt einen danach wieder auf den Boden zurück. Allerdings nur kurzzeitig, denn mit „Floating In Heaven“ präsentiert die Band eine Gouldman / Brian May Kollabo, die dem James Webb Teleskop gewidmet ist. Mein Astronomieherz ist entzückt.
Das bekannte „The Things We Do For Love“ ist vielleicht das einzige Stück, das mir nicht zusagt. Strahlt irgendwie einen schunkelige Oldie-Schwof Vibe aus, quasi das „Obladi Oblada“ der Band. Einige Songs später dann endlich „I’m Not In Love„, der Soft Pop Überhit. Für 10cc Verhältnisse ein schlichter Song, der aber in der Produktion für damalige Verhältnisse bahnbrechend war. Absolut empfehlenswert ist dieses „The Making Of“-Video. Größtmöglicher stilistischer Kontrast ist dann das abschließende „Dreadlock Holiday“. I’m not in love und I don’t like reggae, man sollte mehr so Verneinungs-Claims in der Popmusik benutzen.
Der trotz seiner fast zwei Stunden sehr kurzweilige Konzertabend findet mit zwei Zugaben sein würdevolles Ende. Das doo-wopige „Donna“ wird a cappella dargeboten. Beeindruckend, wie intonationssicher die Herrschaften das über die Bühne bringen. „Rubber Bullets“ vom Debütalbum beschließt dann einen absolut vergnüglichen Abend. Wer Bedenken gehabt haben sollte, dass so alte Legacy-Acts nur noch zu peinlichen Auftritten in der Lage seien, die hauptsächlich dem Erwirtschaften von Geld dienen, wurde heute eines Besseren belehrt.
Sehr schön beobachtet und zusammengefasst–danke
Sehr schön beobachtet und beschrieben mit Historie-danke lg
Oh, mit 10cc werde ich mich jetzt mal näher beschäftigen. Danke für diesen Interesse weckenden Bericht.
It’s never too late to jump on the Dietschi TschiTschi waggon!