LANKUM, 17.11.2023, Manufaktur, Schorndorf
Es hätte eines der besten Konzerte des Jahres werden können.
Die irische Band Lankum gastiert in der Manufaktur. Der Laden ist bis hinten zur Bar gefüllt, sogar die Empore ist geöffnet. Jeder will die Mercury-Prize-Beinahe-Gewinner mit ihrer eigentümlichen Interpretation irischer Traditionals sehen. Wir kämpfen uns vor auf unsere „Stammplätze“ vorne links und erblicken auf der Bühne neben Gitarren, Geigen und Flöten ein Harmonium, ein Akkordeon, diverse andere Quetschkommoden, irische Sackpfeifen, eine Drehleier und einen Synthesizer.
Das Setup könnte täuschen: Hier werden heute keine whisky-seligen Schunkellieder oder Mittelalter-Rock zum Besten gegeben, hier werden die Brüder Ian und Daragh Lynch, Cormac MacDiarmada und Radie Peat keltische Weisen auf ihre ganz eigene Art dekonstruieren. Doch hier im Saal wissen ohnehin alle, worauf sie sich einlassen. Die Stimmung ist freudig erregt, begeisterter Applaus empfängt das Quartett, als es um Dreiviertelneun auf den Stühlen Platz nimmt. Noch ahnt niemand, dass dieser Abend einen unschönen Verlauf nehmen wird.
Mit „The Wild Rover“, dem Opener ihres 2019er-Albums „The Livelong Day“ beginnt das Set, ein beklemmendes Geigen-Ostinato, darüber Radie Peats typisch nasal-gepresster Gesang. Und als dann die Männer dreistimmig dazustoßen, ist der erste Gänsehaut-Moment erreicht. Getragene, archaische Melodien mit langen Spannungsbögen sind das Markenzeichen von Lankum. Kaum ein Song, der sich nicht irgendwann zu einem finsteren, dissonanten Drone entwickelt und einen Blick in unheimliche Abgründe eröffnet. Da ist nichts mehr von der idyllischen grünen Insel übrig, da tun sich dunkle Szenarien auf, seien es die Grauen der Hungersnot, Blicke in die von Banshees bevölkerte Anderswelt oder schlicht Mord und Totschlag.
Das Publikum ist begeistert, der Applaus üppig und die Band sichtlich erfreut. Ganz im Gegensatz zu ihren sinistren Songs entpuppen sich die Brüder Ian und Daragh als äußerst witzige, kumpelhafte Erzähler, mit denen man gerne spontan das nächste Pub entern und ein paar Pint Guinness verhaften möchte.
Mit „The New York Trader“ vom aktuellen Album „False Lankum“ geht es weiter. Auch hier liefert der Bass-Synthesizer zusammen mit der Drehleier diesen zähen, drückend-schiefen Grundton. Das Traditional „The Rocky Road to Dublin“, das wirklich jede irische Band im Portfolio hat und natürlich auch von den Pogues und den Dropkick Murphys in Uptempo-Versionen über die Bühnen geprügelt wurde, wird von Lankum genial verschleppt, zerlegt und schief zusammengeknöpft. Wahrlich meisterhaft. Das Publikum ist euphorisch.
Dann setzt Ian Lynch zu einer Ansprache an. Er schlägt den Bogen von der kolonialistischen Unterdrückung Irlands durch die Engländer direkt hinüber zu Israel, diesem „kolonialistischen Unterdrückerstaat“. Ein Land, mit dem wir als Deutsche ja wohl eine „schwierige Beziehung“ hätten, schiebt er noch hinterher. Aber wir könnten uns ja wohl alle darauf einigen, dass die übertriebene Gewalt Israels zu verurteilen sei, oder? Und während wir hier noch mitgehen können, skandiert er in den Saal:
Free Palastine!
Kein Wort zum Terror der Hamas. Nichts zu Ursache und Wirkung. Ein weiterer Halbsatz hätte gereicht, um den Opfern beider Seiten – und der Komplexität des Themas – zumindest ein wenig gerecht zu werden. Stichwort „Doppelstandards„. So aber nur diese greta-haft plump vereinfachte Parole. Kurze Stille im Saal. Dann antwortet ein kleiner Teil des Publikums mit Applaus und derselben Parole. Der Rest: Stille. Nichts.
Noch auf dem Weg zum Konzert hatten wir uns über den sehr nachdenklichen Artikel von Linus Volkmann unterhalten, bei dem er ein ähnlich verstörendes Erlebnis bei einem Konzert in London beschreibt. Jetzt stehe ich hier, werde selbst mit dieser dumm-einseitigen Sicht konfrontiert und schäme mich, Ian nicht sofort und vor allen Leuten Kontra gegeben zu haben. Mir fällt nichts Besseres ein, als mir ein Bier zu holen und den Saal türenknallend zu verlassen. Später schaue ich mir – aus Chronistenpflicht – den Rest von der Empore an. Der Zauber ist dahin. Das potenzielle Top-Konzert des Jahres wird durch dieses peinlich-dumme Agitprop-Schauspiel zerstört. Und das mit dem Guinness im Pub lassen wir erstmal wohl lieber.
Leider ist jedes Wort des Kommentars wahr. Nach dem ersten Track dachte ich, dass das definitiv das Konzert des Jahres wird, dann dieser unfassbar unreflektierte Unsinn. Ich konnte für keines der folgenden Stücke mehr applaudieren. Warum kann man seine politischen Ansichten nicht außen vor lassen, was ermächtigt diese Leute dazu, sowas von sich zu geben? Als hätte es das Bataclan und das Festival in der Negev-Wüste mit hunderten Toten (ermordet von Leuten, die jetzt von Lankum indirekt als Befreiungsorganisation unterstützt werden) nicht gegeben.
Tja, manchmal wünscht man sich MusikerInnen würden sich politisch äußern und manchmal wünscht man sich, sie hätten es nicht getan.
Uff, was für ein Erlebnis ihr da hattet und ich verpasst habe – nun ärgere ich mich etwas weniger, dass ich keine Zeit gefunden hatte, hinzugehen …