LINUS VOLKMANN, 19.10.2023, Studio Amore, Stuttgart

Linus Volkmann @ 20 Jahre Pop-Büro Region Stuttgart, Studio Amore
Foto: X-tof Hoyer

Das Pop-Büro Region Stuttgart feiert 20-jähriges Bestehen und rammt Linus Volkmann als Kerze in die Torte. Gefestet wird im recht neuen Studio Amore, das sich im Hotel am Schlossgarten eingenistet hat, bevor der 5-Sterne-Tempel am Hauptbahnhof umfassend renoviert wird. Zwischennutzung – das schönste Leitwort Stuttgarter Popkultur. Perfekt für diesen Anlass – prunkvoll feierlich ist hier es zugleich.

Der vom (leider bereits eingestellten) Musikmagazin Intro bekannte Musikjournalist tritt quasi als Headliner zwischen Empfang und Party in der Zirbelstube im ersten Stock auf. Besagte hölzerne Stube, irgendwo zwischen österreichischer Berghütte und Alpensauna in den Schwabenquellen, war früher ein High Class Gastro Spot. Spannendes Booking für diesen Anlass, aber es funktioniert fantastisch. Denn Volkmanns anfängliche Sorge, dass vom heiteren Netzwerken bei Getränken im Erdgeschoss niemand den Weg zur Lesung findet, ist unbegründet: Die komplette Zirbelstube ist voll besetzt. Gruppenzwang kann auch gut sein: Gefeiert wird oben bei Linus.

In Stuttgart genießt Linus Volkmann generell einen guten Ruf und ist ein gern gesehener Gast: Viele Lesungen in den letzten Jahren, auch im Rahmen von Pop Büro-Events und als langjähriger Autor und Journalist ist er in der deutschen Indie-Musikszene sowieso allseits bekannt. 2015 setzte er Stuttgart quasi ein ewiges Denkmal, als er im Musikexpress Stuttgart als neues Seattle bezeichnete. Ja, dieser Satz stammt von ihm. Seitdem ist es sowas wie ein lokales geflügeltes Wort. Eine Wohltat war besagter Artikel aber auch in dem Sinne, dass endlich mal jemand von Außen nicht nur über HipHop und Fanta 4 spricht, wenn es um Stuttgart im Kontext Musik geht. Leben wir in den 90ern oder was? Fühlt sich in Stuttgart leider manchmal noch so an. Zum Glück gibt es viele, die das Gegenteil beweisen. (Auch Anwesende.)

Zeitlich setzt Linus mit seiner neuen Show „Na Bravo“ dort aber an und beamt uns in die Kinderzimmer zurück. Er liest aus Jugendmagazinen der letzten 30 Jahre, Schwerpunkt Bravo. Ein Ritt durch die komischen 80er, die seltsamen 90er und die schrillen 00er Jahre. Wie gemacht für den Musikjournalisten, der durch sein stabiles Insta-Game eh schon zum Influencer mit Haltung und Meme-König der deutschsprachigen Popkultur aufgestiegen ist (Galerie Arschgeweih und Sveamaus nehmt euch in Acht).

Linus Volkmann @ 20 Jahre Pop-Büro Region Stuttgart, Studio Amore
Foto: X-tof Hoyer

Nach den vorangegangenen und eher musikbasierten Lesungen hat sich Linus kürzlich einen Karton Pop Rockys ersteigert und seitdem näher mit Jugendmagazinen auseinandergesetzt. Irgendjemand muss ja mal die Foto-Lovestorys ausschlachten.

Um Musik geht’s nämlich weniger in der Bravo, die Nebengeräusche sind ohnehin interessanter: Steppwesten, Werbung, Tiktok, GEMA Ball. In seiner Powerpoint-Präsentation zeigt Linus zunächst eine aktuelle Bravo und zerpflückt das wenige, was dort noch zu finden ist: Es ist hart trostlos, abgedruckte Insta-Posts, Influencer-News und kaum Content. Aber das ist gar nicht so dumm, denn „Jugendliche sind ja eh nach einer Kachel müde.“ Same.

Da wirkt die Bravo heute völlig aus der Zeit gefallen, die seit 2020 tatsächlich nur noch monatlich (!) erscheint und weit entfernt von seiner Zielgruppe. Ein Heft für Jugendliche, eine fragwürdige Vorstellung. Welcher Jugendliche kauft sich denn ein Heft (!) am Kiosk? Excuse me, wir haben 2023. Besagte Zielgruppe ist ebenfalls nicht anwesend im Hotel.

Ein Heft, das ist sowas wie Blogs, nur ausgedruckt. Mit all den bunten Textkästchen, maximal drei Sätzen und zusammengewürfelten Bildern ist die Bravo fast sowas wie ein Hochglanz-Fanzine, produziert von erwachsenen Redakteur*innen aus München.

Dazwischen ein paar heiße Newcomer, Lebensberatung und Landschaftsgärtnerwerbung. (Immerhin nicht Bundeswehr) „Deutschland ist ja auch so bisschen Popkultur-Ödland“, merkt Linus an. Stimmt. Da haben wir die Bravo zu Recht verdient.

Linus Volkmann @ 20 Jahre Pop-Büro Region Stuttgart, Studio Amore
Foto: X-tof Hoyer

Auch die Foto-Lovestorys, aus denen Linus herrlich schräge Ausschnitte präsentiert, gibt es nicht mehr. Denn solcher Content (Das gegenwärtige Schlagwort) ist teuer zu produzieren, Props daher an die Mühe damals, Stockfotos sind es nicht. Dafür aber trostlos. Irgendwie traurig: Es ist ein Zeichen der Zeit. Neben der köstlichen Unterhaltung auch ein Abend mit Nachdruck der schon lang bekannten Erkenntnis: Print stirbt und Jugendmagazine erst recht.

Doch es geht auch um Musik! Anknüpfend an eben festgestellten Fanzine-Charakter hat die Bravo den Trend „Fun Punk“ für die 90er Jahre prophezeit. „Die 90er Jahre waren, wie wir alle wissen alles, aber kein Fun Punk“ und plötzlich lachen uns Die Ärzte und Die Abstürzenden Brieftauben auf den Covern an. Auch einen Vinyl (!)-Sampler hat die Bravo released („Festival der Volxmusik“), Linus präsentiert sein mitgebrachtes Exemplar. Bezeichnend: Natürlich ausschließlich Männer vertreten, klar. Manches aber gar nicht so scheiße: Immerhin sind auch die goldenen Zitronen oder Rocko Schamoni mit dabei. Bravo hat dann doch mehr mit einem zu tun als man vielleicht zugeben möchte.

Großes Highlight der einstündigen Show ist das kurze Popquiz (auf das hauseigene Gig-Blog Pop Quiz am 11.11. sei hiermit hingewiesen), in dem man Linus’ herrliche Faceswap Photoshop Cover nach dem Original erraten darf und die verbliebenen Erinnerungen an 90er Jahre Boybands hervorholen muss. Quizduell in der Zirbelstube. Print- und Jugendkultur-Experte Linus singt die Songs vor, als Preis gibt’s Einhorn-Esspapier und Poster. Journalismus ist auch Fun.

Sich von Linus Volkmann popkulturelle Geschehnisse erklären zu lassen, ist immer das Schönste. Wie eine Unterrichtsstunde mit dem kauzigen Lieblingslehrer. Er hat einfach ein Händchen dafür, wie man zeitgemäß Popkultur und Journalismus spannend in neue Formate verpacken kann. Vielleicht etwas, was der Musikjournalismus generell zu spät erkannt hat, dass dies nötig ist.

Und trotz aller berechtigter Kritik, das Amüsieren darüber und so trostlos aktuelle Bravo-Ausgaben auch sein mögen: Die Bravo war dann doch ein Fenster in die Welt für viele junge Menschen, vielleicht sogar das erste Fenster in eine neue, aufregende und quietschbunte Welt. Internationale Begegnungen in der elterlichen Wohnung im Dorf, Role Models, Reizüberflutung, frühe Sozialisation, Jugendkultur und ein doch irgendwie bedeutsamer Kommunikationskanal. All das ist die Bravo auch, ihr Lesefrösche.

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