DEICHKIND, 04.08.2023, Cannstatter Wasen, Stuttgart
Die Schilder, die Regeln, die Presse, der Blog
Die Päpste, die Jedi, der Hater, der Bot
Wetter.de und die Neue vom Chef
Sie hat’s von Lena und die ausm Netz
Wer sagt denn das?
So, und nun bin ich dran, der Gig-Blogger, der seine Thesen für seine Blase über das Deichkind-Konzert auf dem Cannstatter Wasen mit wasweisichwievieltausend Fans im Netz verbreitet. Immerhin: ich war tatsächlich auf dem Konzert, all das, was es hier zu lesen gibt, habe ich selbst gesehen und gedacht und gefühlt.
Zur Einführung kurz eine Einordnung zu Deichkind, getextet von DeichGBT:
„Deichkind zeichnet sich durch ihre einzigartige Mischung aus verschiedenen Musikgenres, ihrer energiegeladenen Bühnenpräsenz und ihrem unverwechselbaren Stil aus. Sie sind bekannt für ihre kreativen Texte, die oft humorvoll und ironisch sind und gesellschaftliche Themen aufgreifen. Die Bandmitglieder von Deichkind sind auch für ihre ausgefallenen Bühnenoutfits und ihre spektakulären Live-Shows bekannt, bei denen sie das Publikum mitreißen und eine mitreißende Atmosphäre schaffen. Sie haben es geschafft, über die Jahre hinweg eine treue Fangemeinde aufzubauen und sind zu einer festen Größe in der deutschen Musikszene geworden.“
Um den Info-Block abzuschließen: Die Band gibt es Ende der 1990er Jahre, entsprechend alt sind die Mitglieder, was im Song „Kids In Meinem Alter“ verarbeitet wird. Derzeit dabei sind: Philipp Grütering (Kryptik Joe – MC, Musik), Henning Besser (DJ Phono, La Perla – Regisseur), Sebastian „Porky“ Dürre – MC). Viele Namen ehemaliger Mitglieder werden auf Wikipedia gelistet. Sascha Reimann (Ferris) stieg 2018 aus. Auf der Bühne heute Abend tauchen bis zu sieben Performer respektive Rapper auf. Keine Ahnung, wer das in Persona ist, aber alle zusammen sind eben Deichkind.
Menschen auf dem Cannstatter Wasen, habt Ihr genug Energie für eine Deichkiiiiiiiind-Shoooooooow?
Diese Frage hat mehr Berechtigung als dass sie anbiedernd wäre. All diejenigen, die schon mal dabei waren, wissen das und kommen deshalb. Ein Deichkind-Konzert ist eine Wahnsinns-Show:
Acht Meter große Dreiecksköper bewegen sich unaufhörlich auf der gigantischen Bühne, werden durch Licht und Position immer neu in Szene gesetzt. Die drei Haupt-Rapper werden durch vier weitere unterstützt, sie tanzen um und auf den Körpern herum. Neben-Info: Das System der herumfahrenden Podeste wurde von Deichkind selbst erdacht, patentiert und wird Omnipods genannt. Beim Track „Auch Im Bentley Wird Geweint“ reitet ein Deichkind einen Rodeo auf einer überdimensionalen Omnipod-Gucci-Tasche, beim Track „Wer Sagt Denn Das?“ erscheint ein Omnipod wie eine gigantische Litfaßsäule mit aufgebrachten Schwarz-Weiß-Headlines, welches sich vor einem gleichartig gestalteten Vorhang bewegt. Viel alte Theatertechnik mit fallenden Kabuki-Vorhängen, klassischen Lichttechnikeffekten und so weiter wird im hypermodernen Gewand zur Anwendung gebracht. Cirque du Soleil als Tech-Rap-Show. Ganz sachlich: sehr beeindruckend.
Das alles wird garniert mit technoiden Bollerbeats und immer neuen Kostümen und Choreografien, die dann besonders verrückt aussehen, wenn sich die sieben Rokoko-Prolls im Kollektiv wie ein schwerfälliger Wurm oder wie ein Igel oder wie ein Blobfisch bewegen. Hier wird die Überwältigungsmaschine ausgepackt und sie tut ihren Dienst.
Alle Straßen sind geteert
Gelsenkirchen liegt am Meer
In Grönland wachsen Palmen
Alle Groschen sind gefallenZeitumstellung abgeschafft
Alle Tattoos abgemacht
Keine Ampel zeigt mehr rot
Wir lassen das jetzt so
(Aus „Die Welt Ist fertig“)
Kommen wir nun zu meiner These. Deichkind macht uns ein verlockendes Angebot: Durch den satirischen und gesellschaftskritischen Ansatz, den Deichkind mit seinen ironischen Texten wählt, „darf“ sich der gebildete Mensch der Mittelklasse dem ungehemmten Ausgelassensein hingeben, was er sich z. B. beim Schlager-Pop (Ikke Hüftgold, Die Atzen und alle anderen) aus Fremdscham und Peinlichkeitsattacken nicht erlaubt. Die intellektuelle Verbrämung lässt uns mitgrölen, bescheuert tanzen, Bierbecher werfen. Wir genießen die Feier-Freiheit. Hedonismus mit Humanismus. Auf die Spitze wird es getrieben mit der Performance von „Hört Die Signale“:
Ein Hoch auf die Internationale Getränkequalität
Ein Hoch auf die Säufersolidarität
Bullen, Bonzen Banken
Alle müssen Tanken
Denn kein Mensch ist illegal
Schon gar nicht wenn er breit ist
Mitten in der hochgepumpten Inszenierung: ein Break. Weit oben auf einem der Dreieckskörper steht ein Deichkind im Licht aller verfügbaren Moving-Heads und intoniert „The Power Of Love“ von Frankie Goes To Hollywood. Dieser verrückte Move berührt das gänzlich überraschte Publikum, schwelgerisch schwankend singt es mit, international solidarisch mit Flüchtenden und Feiernden – um kurzerhand wieder in den beatgetriebenen Track zurückgestoßen zu werden. Fantastisch inszeniert, Herr Regisseur, mit großen Gefühlen großartig verführt. Funktioniert vor allem bei Geburtsjahrgängen 1965 bis 1975 (siehe Track „Kids In Meinem Alter“).
Wie auch immer man das interpretieren und bewerten will, für eine Deichkind-Show braucht man genügend Energie, es lässt einen nicht kalt.
Sie endet mit dem gänzlich hedonistischen und humanismusfreien „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“, einer brechend vollen Bühne mit Menschen und Omnipoden und Geräten und Fahnen und einem heliumgefüllten Spruchballon mit den Worten „Leider Geil“. Das Publikum tobt, der Vorhang wird geschlossen. Eine Bernie-Sanders-Pappfigur (er, auf dem Stuhl bei Joe Bidens Inauguration mit seinen gestrickten Wollhandschuhen sitzend) wird auf die Vorbühne gestellt und bekommt das „Leider Geil“-Gasdings an die Hand gebunden. Da winkt und zum Abschied also doch wieder der Humanismus…
Malle einmal jährlich
Immigranten sind gefährlich
Götter sind nicht sterblich
Dummheit ist nicht erblich (hehehe)
Wer sagt denn, wer sagt denn, wer sagt denn das?
Setlist
Tetrahedon
99 Bierkanister
So’ne Musik
Geradeaus
Auch im Bentley wird geweint
Porzellan und Elefanten
Die Welt ist fertig
In der Natur
Wer sagt denn das?
Wutboy
Kids in meinem Alter
Komm schon!
Bon Voyage
Lecko mio
Bück dich hoch
Leider geil (Leider geil)
Richtig gutes Zeug
Oma gib Handtasche
Arbeit nervt
Delle am Helm
Bude voll People
Roll das Fass rein
Niveau Weshalb Warum
Hört ihr die Signale
Keine Party
Limit
Encore:
Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)
Hi, sehr intressant,
vielen Fank,ah : Dank !
… war leider nicht dort, hab‘ nur eine Anmerkung :
„Jüngstes“Mitglied / Nachrücker für (Ferris?) .. war der Rapper, der schon vor langer Zeit (u.a. als ~Sozailarbeiter ?) den kids gezeigt hat, wie saublöd-einfach man Aggro-texte verfassen kann… „Roger Reckless“ heisst der Mann, der als einziger dunkelhäutiger Lausbub in sein Dorf erst nach Jahren im Kindergarten fas Wort „N€ger“ gehört hat – und da noch nicht wusste, was das heissen doll, und dass er gemeint ist (!) – gabs mal ein spannendes feature über ihn im Zündfunk ..,
lg Lo