SWR VOKALENSEMBLE unter MARCUS CREED, 14.05.2022, Gaisburger Kirche, Stuttgart

SWR VOKALENSEMBLE unter MARCUS CREED, 14.05.2022, Gaisburger Kirche, Stuttgart

Video Still: SWR

Marcus Creed steht an der Seitenpforte der Gaisburger Kirche und raucht. Wahrscheinlich ist er in Gedanken schon bei den großen Bögen, die er mit dem Programm von der Renaissance-Zeit bis heute schlagen muss. Intertextualität und Referenzen, Nachahmungen und Verweise im Laufe von knapp 500 Jahren sind zu berücksichtigen. Neben der Gaisburger Kirche, die so hübsch auf dem Felsensporn im Stuttgarter Osten thront, spielt für das Konzert heute aber der große und glänzende Markusdom in Venedig eine entscheidende Rolle: Im seinem Inneren gab und gibt es viele Schiffe, Kuppeln und Emporen, an denen sich der Klang bricht und widerhallt, 12 lange Sekunden lang. Mit diesem Effekt muss man als Kirchenmusiker erst einmal umgehen, vor vielen Jahrhunderten ebenso wie heute.

Der Renaissance-Komponist und Domkapellmeister Adrian Willaert (*1490) kreiert polyphone Klangteppiche (wunderbar zu hören in „Veni sancte spiritus“), bei denen eine Stimme in die andere greift und sich so ein fast endloses, ununterbrochenes Ton-Gewebe bildet. Indem Willaert in San Marco den Chor aufteilt und ihn auf Emporen, Balkonen und Podesten im Kirchenraum positioniert, erzeugt er vor 500 Jahren als erster eine Art „dolby-surround-Klang“. Claudio Monteverdi (*1567) macht dagegen den Text des „Dixit Dominus“ zur Gestaltungs-Grundlage seiner Musik: Gleich den Anfangsvers „Dixit dominus domino meo“ (Der Herr sprach zu meinem Herrn) lässt Monteverdi viele Male durch die einzelnen Stimmen hindurch einsetzen und wiederholen. Mit dieser Polyphonie verstärkt er die Hall- und Echo-Effekte in San Marco. Freundlich-professionell wird Monteverdis Psalmentext-Vertonung heute Abend von acht Solist*innen gesungen, von zwei Violinen, einer Orgel, einer Laute und einer Violone begleitet und von Marcus Creed geleitet– aber vom Hocker haut das das Publikum noch nicht. Ein bisschen mehr San-Marco-Akustik hätte man sich in der Gaisburger Kirche schon gewünscht.

SWR VOKALENSEMBLE unter MARCUS CREED, 14.05.2022, Gaisburger Kirche, Stuttgart

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Auch Francesco Cavalli  (*1602) war Domkapellmeister an San Marco, auch er setzt auf die Wirkung des Textes: In seinem an die Gottesmutter gerichteten Gesang „Salve Regina“ werden die Worte „ad te clamamus“ (zu dir rufen wir), „ad te suspiramus“ (zu dir seufzen wir) in Musik abgebildet: Da ruft es immer wieder und wie getupfte Schluchzer werden auch die Seufzer hörbar. Durch die halb geöffneten Fenster tönt aber mitnichten eine Antwort Marias, sondern die schnöde Weltlichkeit mit Gegröle, Blaulicht und Martinshorn: Der VfB Stuttgart hat den Klassenerhalt geschafft.

Musikalisch so richtig spannend wird der Abend erst mit der Moderne: Der Avantgardist Luigi Nono (geboren 1924 in – na, wo wohl?) lässt sechs Sopranistinnen und eine Solo-Sopranistin (Tonhöhen!) in „Ha venido“ die Ankunft des Frühlings bejubeln. Bei ihm setzen Töne entweder kurz VOR oder kurz NACH dem eigentlichen Schlag ein: Fast scheint es so, als würde man den Nachhall zuerst hören, dann den eigentlichen Ton – und schließlich setzt sich noch die Solostimme darüber. Wieder eine Anspielung an San Marco. So komplex, so bruchstückig ist das, dass die Sängerinnen die Pausen bis zu ihren Einsätzen mit den Fingern mitzählen und die richtige Tonhöhe immer wieder mit der Stimmgabel finden müssen.  Wahnsinnig hoch gesetzt, klar, durchdringend, diskussionslos – DER Frühling kommt. Ganz sicher.

SWR VOKALENSEMBLE unter MARCUS CREED, 14.05.2022, Gaisburger Kirche, Stuttgart

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Bei Mauricio Sotelo (*1961) verändert sich der Klang hin zur Lautmalerei: Wir hören am Ende seines „Estelas en la mar“ (Kielwasser im Meer) aus dem Mund der Sänger*innen kleine Luftbewegungen, Wind, Meeresrauschen, und schließlich am Strand auslaufende Wellen.

„Sicut nix“ heißt auf Deutsch Gleich wie/so wie/ wie Schnee – eigentlich ein Vergleich, ein Bild. Der sympathische (und anwesende!) tschechische Komponist Martin Smolka (*1959) macht dementsprechend aus verschiedenen Texten über Schnee drei synästhetische Musikbilder. Doch wie geht das? „Murmuring Morning“ –  wie klingt „murmelnder Schnee“? Smolka bricht die Wörter in ihre Einzelsilben auseinander, wiederholt sie – und setzt sie Pointilismus-artig wieder zusammen. „We see fantastic forms“ – auch hier erscheinen bizarre Schneeformationen vor unserem inneren Auge, eine nach der anderen, jede anders als die vorige:  F – O – R – M – S. „Feathery Flakes“ (gefiederte Flocken) tanzen so leicht durch den Raum, so schnell sind sie und luftig, dass man sie kaum zu fassen bekommt. Staunend schaut man ihnen hinterher. Die Psalmenvertonung über Schnee im 3. Block von „Sicut nix“ endet in einem wunderbaren AMEN – und knüpft damit wieder an San Marco an.

Großer Applaus für Marcus Creed, der im Anschluss noch offiziell mit dem Georg-Friedrich-Händel-Ring geehrt wird, noch größerer Applaus für die Musiker und den Komponisten Martin Smolka.  Mag in San Marco die alte Musik besser tönen – hier in der Gaisburger Kirche leuchtet die Moderne.

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