DIE STERNE, 08.03.2020, Merlin, Stuttgart
Utopie, die: aus dem Griechischen stammendes Nomen, femininum, bedeutet übersetzt ohne Ort und bezeichnet laut Lexikon ein in der Zukunft liegendes Wunschbild einer fiktiven Gesellschaftsordnung, oft resultierend aus der Kritik am bestehenden System. Utopien beschwört die Band Die Sterne heute Abend mehrere, so heißt es in „Wir kämen wieder vor“:
Ach wenn wir jetzt sagen könnten, es wäre egal, wo wer geboren wär oder als was, Mann Frau – Frau Mann, will oder kann, und wen man so mag geht keinen was an, dann .. würden wir wieder Lieder singen, vielleicht auch noch feiern gehen, zurück an die Arbeit oder wenigstens aus dem Haus – wir kämen wieder vor, wir wären am Start
In der Welt der Sterne kommen tatsächlich alle vor, alle sind gemeint und angesichts der enormen musikalischen Bandbreite – von melancholisch, beinahe sperrig, langsam, bis upbeat, funkig und elektronisch – müsste hier auch für jedes Ohr was dabei sein. Heute Abend sind definitiv mehr Männer als Frauen ins Merlin gekommen am internationalen Frauentag, auf den durch Spilker wiederholt durch „Worte, Gesten oder auch nur Blicke“ hingewiesen wird. (Die Autorin persönlich hält es hier ja mit der semi-satirischen Burschenschaft Hysteria und deren Forderung nach dem Rückzug des schönen, sprich männlichen, Geschlechts ins Private auf dem Weg in die Utopie des goldenen Matriarchats.)
Zurück zum Text, ach ja – Begrüßung: „Wir kennen uns ja noch gar nicht“, sagt „entwaffnend“ Frank Spilker, dies soll sich nun ändern, und zwar durch die Darbietung eines Liedes nach dem anderen, wie man das halt so mache. Darunter auch so ziemlich alle vom neuen Album. Geht klar im ausverkauften Merlin. Und alle direkt dabei! Große Band, kleine Location, muss jetzt das Adjektiv intim fallen? Ach nö. Schön ist es trotzdem. Neues Album kam nach sechs Jahren Ende Februar. Es heißt schlicht „Die Sterne“, nach langer und bewegter Bandgeschichte, nur noch Spilker von der urprünglichen Besetzung übrig, dennoch logisch und konsequent es so zu nennen – denn so ist es jetzt, das sind jetzt die Sterne. Fertig und ganz und gar nicht aus. Tolles Cover auch. Mit Puderperücke in urbaner Umgebung. (Muss ich direkt an Marie Antoinette denken, Sofia Coppolas Film über dieselbige, in dem man Kirsten Dunst dabei zuschauen kann, wie sie zauberhafte Petit Fours in ihren noch viel zauberhafteren Mund steckt und sich Vergangenheit und Gegenwärtiges (super Soundtrack) kunstvoll mischen.) Aber nicht nur optisch macht das Album was her. Auch sonst toll und außerdem illustere Kollaborationen u.a. mit Düsseldorf Düsterboys (wir berichteten) und Erobique. Los geht’s mit dem neuen Song „Der Palast ist leer“ und dann folgt ein Querschnitt durch das beachtliche Werk der Band. Und die Texte natürlich einfach immer schlau und richtig. Für mich stechen vor allem die neue Utopia-Hymne „Du musst gar nichts“ (rauschhaft, in Endlosschleife, mit rhythmischer Kuhglocke, wie heißt das bitte in cool? – die Absage an alles, was man halt gemeinhin so macht – zur Arbeit gehen, Geburtstag feiern, Kalorien verbrennen etc. pp.), die Disconummer „Depressionen aus der Hölle“ (live nicht ganz so clean wie auf Platte) sowie alles mit tragender Keyboard-Rolle (Dyan Valdes) hervor.
Die erste Runde Zugaben sorgt bei den Umstehenden für leuchtende Augen: Die Evergreens „Universal Tellerwäscher“ und „Was hat dich bloß so ruiniert“. Das Konzert endet nach mehreren umjubelten Zugaben mit „Deine Pläne“ (Video ist einfach nur herrlich) und „Die besten Demokratien“, das die diversen Schwachstellen der derzeit besten denkbaren und praktisch erprobten Regierungsform „schonungslos“ offenlegt und dabei absolut tanzbar ist. Chapeau!
Danke für die Musik und einen wunderbaren Abend! In dystopisch anmutenden Zeiten öfter Die Sterne hören. Ich rate ausdrücklich zu Hamsterkäufen. Und nicht vergessen: Du musst gar nichts!
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