ELEKTRO GUZZI & STUTTGARTER KAMMERORCHESTER, 22.05.2019, Theaterhaus, Stuttgart
Wie verhält sich das nochmal mit dem Klatschen bei klassischen Konzerten? Begrüßungsapplaus, wenn Künstler oder Dirigent auftreten, kein Applaus zwischen den Sätzen, am Ende des Stücks wird erst geklatscht, wenn Dirigent oder Künstler sich zum Publikum drehen und verbeugen. Dies schnell noch ins Gedächtnis rufen, denn heute wird ein Terrain betreten, das beim Gig-Blog nicht so häufig bedient wird. Klassik trifft auf Live-Techno.
Wir sind Zeugen eines historischen Moments, kann man sagen. Eine Uraufführung des Stücks „Inner Scope“ im Theaterhaus Stuttgart, bestehend aus zwei Teilen, Dauer 80 Minuten, keine Pause. Komponiert und arrangiert wurde „Inner Scope“ in einem Arbeitsprozess von einem halben Jahr von der österreichischen Live-Technoband Elektro Guzzi. Montags wurde zum ersten Mal gemeinsam mit Stuttgarter Kammerorchester geprobt, am Mittwoch die Aufführung. Profis eben.
Elektro Guzzi, das sind Jakob Schneidewind (E-Bass), Bernhard Breuer (Drums) und Bernhard Hammer (Gitarre). Sie sind große Terry-Riley-Fans erzählt Gitarrist Bernhard Hammer in der Einführung, die es noch vor dem Konzert gibt. Wichtig in ihrem Arbeitsprozess sei ihnen der Sound, wie dieser klingt und ausbalanciert ist.
Wir bewegen uns im Feld Minimal Music, zugeordnet der modernen Musik, die sich ab den 1960er Jahren in den USA entwickelt hat. Kernelement: zahlreiche Wiederholungen und eine tonale Harmonik sagt mein Musikbüchlein. Inspirationsquelle für „Inner Scope“ war das Stück „Shaker Loops“ (1978) des US-amerikanischen Komponisten John Adams. Darin verwendet werden Melodien der Shaker, einer heute fast verschwundenen christlichen Gemeinschaft im Amerika des 18. Jahrhunderts, deren Gebetsformen rituell getanzte und gesungene Schütteltänze waren, mit denen sie sich in einen Trancezustand gebracht haben.
Der Klassik-Knigge kann erstmal zugeschlagen werden, denn die Atmosphäre dieser Aufführung ist deutlich aufgelockert. Das Stuttgarter Kammerorchester ist nicht ganz so förmlich gekleidet, eher leger in Schwarz. Der erste Geiger gibt den Einsatz, los geht „Inner Scope“. Leicht erhöht hinter dem Kammerorchester agiert die Band. Ich habe den Begriff des organischen Klangkörpers aufgeschnappt, den dieser umschreibt es sehr gut. Die langgezogen gespielten halben Noten der Streicher steigern sich wellenartig und flachen wieder ab, ohne monoton zu wirken. Die Streichinstrumente stehen in einem ständigen Dialog, bis der Klang wieder zu einem Fluss zusammen kommt. Erst sind es nur zwei Bratschen, die spielen, dann kommen zwei weitere dazu und die Geigen antworten. Die Dynamik zwischen Band und Orchester wechselt sich ab. Die Techno-Drum’n‘ Bass Beats und Loops vermischen sich mit den Streicherklängen. Sehr faszinierend anzuschauen ist das Spiel des Drummers Bernhard Breuer, der die Beats wie eine Drum-Maschine hochpräzise nach vorne treibt. Die ständigen repetitiven Klangmuster haben schon eine beruhigende, hypnotische Wirkung. Gilt vielleicht nicht für alle, denn nach dem ersten Teil von „Inner Scope“, haben ein paar Zuhörer den Saal verlassen.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt. Bei der Musik, die antreibt und ins Bein geht, hätte ich gerne auf den Sitzplatz verzichtet. Man muss nicht dem tranceartige Tanz der Shaker verfallen, etwas Bewegungsfreiheit wäre auch gut gewesen.
Orchester und Band erhalten einen frenetischen Beifall. Absolut verdient.