PROTOMARTYR, PIGEON, 24.08.2018, Manufaktur, Schorndorf
Keine Frage, Joe Casey ist der wahrscheinlich seltsamste Frontmann, den ich jemals gesehen habe. Der Sänger des Detroiter Postpunk-Quartett Protomartyr wirkt wie ein abgehalfteter Gebrauchtwagenverkäufer mit einem gefährlichen Hang zum Alkohol, der sich mit bescheidenen Gesangskünsten auf die Bühne verlaufen hat. Als wir ihn 2016 im Schocken zum ersten Mal sahen, waren wir von seinem skurrilen Auftritt und dem brachialen Postpunkt derart geplättet, dass wir gar nicht dazu kamen, uns mit Band-Geschichte, Songs und Texten auseinanderzusetzen. Ein Fehler, wie sich herausstellen wird. Doch dazu später.
Als Support haben Protomartyr Pigeon mitgebracht, ein Postpunk-Trio aus Berlin, das die 150 Besucher in der Manufaktur schonmal erfolgreich in finstere Stimmung bringt. Mit einer soliden Performance in klassischer Rockbesetzung und einer ordentlichen Prise Eighties-Sound, der gerne mal ins Noisige kippt. Schneidende Riffs, drückender Bass und überraschende Breaks, das kommt in der Noise-Region Stuttgart dann sogar so gut an, dass noch eine Zugabe draufgelegt werden darf.
Um 21:45 betreten Joe Casey, Greg Ahee, Alex Leonard und Scott Davidson die auffällig aufgeräumte Bühne. “Protomartyr are awesome but they look like 3 scared teens who started a band with their alcoholic uncle.” ist einer der vielen Beschreibungsversuche für diese Band. Und der trifft es ganz gut. Casey hat sich sein Jackett mit drei Flaschen Bier ausgebeult und der Gig beginnt, nachdem er die erste geöffnet hat. Noch heftiger als 2016 schlägt der finstere Postpunk-Sound zu. Casey bellt, nölt, sprechsingt seine kryptischen Textzeilen heraus, kämpft mit den Tücken des Mikrofonständers, starrt einzelne Zuschauer an, kurzum: verbreitet eine beklemmende Atmosphäre.
I’m kind of a lyrics guy, even though I don’t think that necessarily lyrics should be understood
sagt Casey in einem Interview. Damit meint er natürlich nicht, das sie akustisch unverständlich sein sollen (was sie leider über weite Strecken sind). Und er korrigiert sich auch dadurch, dass er in unzähligen Interviews immer wieder Interpretationshilfen und Einblicke in den Entstehungsprozess gibt.
Aus einem „Stream of Consciousness“ entstehen spontane Ideen, die häufig Bezug zu sozialen oder politischen Themen haben. Sei es über die gebeutelte Heimatstadt Detroit („Don’t Go To Anacita“ oder auch „Come & See“) oder über Umweltthemen wie das Brumm-Phänomen von Windsor („Windsor Hum“). In dieser Kleinstadt in Kanada tritt ein nervtötendes 35-Hz-Brummen auf, das höchstwahrscheinlich von einem Stahlwerk im nahegelegenen Detroit verursacht wird.
The old Windsor humming
Across the river
From the U.S. of A
Saying, „everything’s fine“
Casey dazu in einem Interview: „I see it as a metaphor for the signal that America is sending out to the world. It’s destructive.“ (Erfreulicherweise gibt es übrigens auf Genius.com nahezu alle Lyrics von Protomartyr, kommentiert mit Fußnoten, Zitaten und Querverweisen)
Die häufigen Vergleiche von Joe Casey und Jason Williamson von den Sleaford Mods sind jedenfalls berechtigt. Das anti-charismatische Auftreten, die gewollte Hässlichkeit, die wütenden, zeitkritischen Kommentare machen Protomartyr in den Trump’schen USA zu dem, was die Sleaford Mods auf der Insel des Brexit-Wahnsinns sind. (Dass Casey eine frappierende Ähnlichkeit mit David Cameron hat, ist hierbei ein kurioser Zufall)
Der Auftritt verläuft zwar weit weniger exzessiv als der der Rüpel aus Nottingham an gleicher Stelle, in punkto Intensität steht er diesem aber trotzdem nicht nach. Die bedrückende Stimmung, der meist unterdrückte, manchmal auch offen herausgeschriene Zorn, die Mischung aus lapidar und manisch sind für die Zuhörerschaft echt fordernd. Nur einmal genehmigt sich Casey ein Lächeln: Als zur Zugabe aus dem Publikum „Come & See“ gewünscht wird, er dies sofort ablehnt, dann aber von der Band überstimmt wird.
Das Publikum ist begeistert, Casey hat seine drei Biere pünktlich zum letzten Ton geleert und ordentlich vor den Drums aufgereiht, die Manufaktur hat ein weiteres Konzert-Highlight in ihrem Jubiläumsjahr präsentiert und draußen am Merch stehen die Leute Schlange für die kunstvoll gestalteten Produkte von Protomartyr. Dass die grafische Gestaltung auch komplett von Joe Casey stammt, bestätigt es nur: Dieser unscheinbare, kauzige Typ aus Detroit ist ein wahrhaft großer Künstler, dessen Werk eine intensive Beschäftigung verdient.
Setlist Protomartyr
My Children
Want Remover
Wheel of Fortune
Windsor Hum
The Chuckler
Violent
Jumbo’s
Night-Blooming Cereus
Wait
A Private Understanding
Here Is The Thing
Pontiac 87
Cowards Starve
Why Does It Shake?
Come & See
Half Sister