ZIRKEL, 30.08.2018, Merlin, Stuttgart
Das Klinke-Festival ist in der vierten und letzten Woche und ich mache mich auf den Weg, eine mir komplett unbekannte Band zu besuchen: zirkel. Beim Eintreffen im Merlin reibe ich mir die die Augen: Der Laden ist top besucht, im Publikum einige Stuttgarter Musik-Prominenz. OMG, habe ich hier einen Trend verschlafen? Dabei sind die verfügbaren Informationen doch eher spärlich: 4 Demo-Tracks auf Soundcloud, eine Facebook-Page mit gerade mal 270 Fans, das „ganz große Ding“ habe ich da wohl doch nicht übersehen. Ich bin jedenfalls mächtig gespannt.
Aber auch im restlichen Publikum scheint der Auftritt mit Spannung erwartet zu werden. Und als Cali (Gitarre, Bass, Gesang, Keyboard), Sophia (Bass) und Eva (Drums) die Bühne betreten, ist eine sympathische Nervosität zu spüren. Das Setup ist unkonventionell: Die Drums sind an den rechten Rand geschoben, Keyboard und Gesangsmikro ganz links, in der Mitte ist außer einen beeindruckenden Menge von Effektgeräten „nur“ der Bass platziert. Gleich der erste Song präsentiert zwei Stilelemente, die wir noch mehrmals antreffen werden: ein lockerer Ska-Offbeat und Textzeilen wie „Bla bla bla“ (später gibt es noch „La la la“ und „Ja ja ja“). Was als scheinbar simpler Pop daherkommt, ist vertrackter als erwartet. Kaum ein Song, in dem der Zuhörer nicht mit überraschenden Rhythmus- oder Harmoniewechseln gefordert wird.
In „Ayla“ zum Beispiel kippt der Downbeat plötzlich in hektisches Getrommel und Stakkato-Texte. Gesungen wird übrigens in englisch und deutsch. Die Ansagen sind eher zurückhaltend. Wir erfahren, dass es der erste Gig seit einem Jahr sei, dass es nix zu kaufen gebe, kein Album, kein Merch, keine T-Shirts (außer denen, die sie gerade trügen). Als dann mitten im Set als „neues Mitglied“ Nadja vorgestellt wird, wird nicht nur die Lücke in der Bühnenmitte geschlossen, wir haben nun mit zwei Bässen* ein eher unkonventionelles Setup. Als Cali sich dann wenig später auch noch einen Viersaiter umschnallt, erleben wir ein absolutes Novum: drei Bässe und ein Drumset.
(*Berichtigung: Das ist alles Quatsch. Nerven-Bassist Julian hat uns freundlicherweise darauf hingewiesen, dass Nadja eine viersaitige Tenor-Gitarre spielt. Was es nicht alles gibt…)
Mit zunehmender Dauer spielt sich die Band in einen Flow. Die anfängliche Zurückhaltung schwindet mehr und mehr, unterbrochen wird das erfreulich straight durchgespielte Set nur durch häufigen Instrumenten- und Positionswechsel. Reminiszenzen an die frühen Achtziger sind immer wieder zu hören, seien es Anklänge an die Neue Deutsche Welle oder auch ein Titel mit einem wunderbaren B-52’s-Basslauf.
Mit einem noisigen Instrumental-Titel legen die vier noch eine Schippe drauf und beweisen ihre musikalische Vielfalt. Bei einem Song mit witzigem Wechselgesang zwängen sich Cali und Sophia hinter ein Mikro, obwohl an solchen wahrlich kein Mangel herrscht. Einmal kommt ein Vocoder zum Einsatz und Calis Stimme wird genüsslich durchs gesamte Stimm-Spektrum von Darth Vader bis Donald Duck genudelt. Die Stimmung im Saal ist inzwischen jedenfalls prächtig, der Auftritt strebt seinem Ende entgegen, eine Zugabe ist aber vorbereitet. Inzwischen hat mir auch jemand zugeflüstert, die Band komme aus dem Umfeld der Aka. Dies erklärt vielleicht auch den überraschend großen Zulauf. Obwohl, sind nicht gerade Semesterferien?
Mit „Yolo Tengo“, dem feinen NDW-Ska „Kurz vor 12“ und dem 1-Minuten-Rausschmeißer „Fish“ beschließen die vier einen absolut überzeugenden und sehr unterhaltsamen Gig. Und die nächsten Auftritte werden – mit mehr Live-Routine und einem beherzten Einsatz vom ersten Titel an – sicher noch schöner. Ich empfehle jedenfalls einen Besuch bei meiner Neuentdeckung zirkel.