RY X & STUTTGARTER KAMMERORCHESTER, 14.02.2018, Theaterhaus, Stuttgart
Was hat dieser Mann, was andere nicht haben? Die Begeisterung und Jubelstürme, die Ry Cuming alias Ry X im Theaterhaus entgegenbranden, sind allein durch den musikalischen Vortrag kaum erklärbar. Keine Frage: Ry X hat mit Unterstützung des Stuttgarter Kammerorchesters eine solide Show abgeliefert, aber was darüber hinaus ist es, dass das Publikum derart euphorisiert hat?
Der größte Saal mit über tausend Plätzen ist seit Wochen ausverkauft. Beachtlich, wenn man bedenkt, dass Ry X vor knapp zwei Jahren mit einem ganz ähnlichen Programm gerade mal im Club Schocken aufgetreten ist. Dass er sich auf seiner aktuellen Tour jeweils ein lokales Kammerorchester zur Seite stellt, gibt dem ganzen etwas Feierliches. Die Erwartungen sind entsprechend hoch.
Dabei fängt der Abend ganz klein an. Die Amerikanerin Hannah Epperson (letztes Jahr haben wir sie noch auf dem beschaulichen Burning Eagle Festival gesehen) steht ganz allein mit ihrer Geige und etwas Elektronik vor der imposanten Publikumskulisse. Und sie schafft es, mit ihren raffiniert übereinandergeschichteten Violinenloops wie eine kleine Band zu klingen und das (vorbildlich aufmerksame) Publikum in ihren Bann zu ziehen. Frappierend übrigens, wie prägnant diese zarten Klanggebilde im Raum stehen – dank einer herausragenden Anlage und eines versierten Herren am Mischpult. Es sind gerade mal drei Songs, die in ihren halbstündigen Auftritt passen, genauso lang ist unverständlicherweise die Umbaupause für die ohnehin schon komplett eingerichtete Bühne.
Man hat die Zeit genutzt, selbige massiv einzunebeln und kleine Kerzengebinde zu verteilen. Eigentlich exakt der selbe stimmungsvolle Bühnenaufbau wie damals im Schocken, nur eben sehr viel größer. Nach einem kurzen Intro tritt Ry X an seinen Platz und beginnt grußlos mit seinem Programm. Filigraner Folk-Indiepop, mal mit Akustikgitarre, mal mit Synthesizer oder E-Piano. Dazu seine hohe Stimme, für die ihn seine Fans lieben. Nach zwei Liedern spricht er erstmals zum Publikum: wie bewegend dies alles für ihn sei, das ausverkaufte Haus, das tolle Publikum und dass er dies alles demütig entgegennehme. Uff, das ist schon verdammt dick aufgetragen. Auch wenn das „Kammerorchester“, das in Wirklichkeit nur ein halbes Dutzend Streicher, ein Hornist und ein Perkussionist ist, glücklicherweise dezent und akzentuiert aufspielt und der Versuchung widersteht, aus Cumings Songs breitbandige Soundtracks zu machen. Auch wenn der Band-Schlagzeuger hin und wieder erfrischend frickelige Elektronik-Beats einstreut, letztlich ist das Ganze so überzuckert, dass es schon Richtung Edelkitsch abdriftet.
Seinen aus der Sony-Werbung bekannten Überhit „Berlin“ präsentiert der Australier ganz unprätentiös in der Mitte des Sets. Auch in seinem Auftritt verwöhnt ein exzellent abgemischter, transparenter Sound. Da sich aber alle Songs in einem sehr engen Spektrum von Tempo und Dynamik bewegen, lässt sich nur schwer ein Spannungsbogen aufbauen. In der zweiten Hälfte holt er dann zu seinen älteren Titeln auch noch Hannah Epperson zurück auf die Bühne, von der man allerdings kaum etwas hört. Natürlich verpasst er nicht die Gelegenheit, den heutigen Valentinstag mehrfach zu erwähnen. Und dann bittet er das Publikum aufzustehen und an diesem Tag der Liebe seinen Nebenmann oder Nebenfrau zu umarmen. Und spätestens hier hat er – auch wenn das freudig vom gesamten Publikum durchgezogen wird – den Bogen der Gefühligkeit überspannt. Was im kleinen Rahmen des Clubs noch einigermaßen kuschelig wirkte, ist hier einfach peinlich.
Es mag ja alles ganz aufrichtig und echt gemeint sein, ich finde es schon gleichermaßen faszinierend wie irritierend, wie Mister Cuming das Publikum in einen Kokon aus Wohlgefühl einspinnt. Was hat er nur an sich? Der bärige Typ mit den tollen Augen, den schüchternen Gesten und dem achso zarten Gesang? Ist er der Archetyp des sensiblen Eskapisten in einer zunehmend gestörten Welt? Ist er der personifizierte Zeitgeist, die Projektionsfläche für die heimlichen Sehnsüchte urbaner Business People? Kurzum: der Typ moderner Mann, der einen schwach werden lässt? Und einen dabei gar nicht merken lässt, dass er gerade ein – geschickt mittels Orchester aufgepepptes – aber sonst eher durchschnittliches Popkonzert abgeliefert hat? Ich befürchte, ja.