MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

Melvins – Foto: Steve Sonntag

Mit schöner Regelmäßigkeit hauten die Melvins in der Schorndorfer Manufaktur auf den Putz. Dann kam es in dieser Regelmäßigkeit zu Aussetzern, die bekanntlich die Regel bestätigen – oder sind die Melvins doch eher ein Garant für orchestrierten Regelbruch?

Es ist für mich als (unfreiwilliger) Lehrer immer wieder ein Vergnügen, Schüler dazu zu zwingen, eindeutige Definitionen von scheinbar einfachen Sachverhalten zu machen, um ihnen sprachliche Exaktheit anzutrainieren. Nehmen wir beispielsweise das Wort ’stehen‘. Man könnte etwa definieren:

Das Wort ’stehen‘ bezeichnet beim Menschen eine senkrechte, gerade Körperhaltung, bei welcher sich der Mensch sowohl vom Boden in die Höhe drückt als auch – durch leichte Gewichtsverlagerung gegenüber seiner Mittelachse – die Position hält, ohne die Füße zu bewegen.

Das ist eine schöne Übung, denn so leicht käme man nicht drauf. Oder diese Definition von Musik hier:

Musik ist eine zusammengehörige Folge von aufeinander bezogenen Klängen, die – jeweils in ihrer Tonhöhe und -länge sowie Klangfarbe bestimmt – parallel erklingen oder nacheinander in rhythmisch gegliederten Schritten auf der Zeitachse angeordnet sind und dabei ein in sich geschlossenes Ganzes bilden.

Toll, nicht? Ja, gut, ist vielleicht als Übung interessant in der Wirklichkeit aber natürlich völliger Quatsch. Mehr noch, wenn man die Melvins ansieht. Warte, ich zeige es Dir kurz:

MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

Melvins – Foto: Steve Sonntag

Und nein, ich werde jetzt nicht behaupten, dass die Melvins keine Musik sind, sondern nur Krach. Zu lange habe ich gebraucht, um meinen Eltern zu vermitteln, dass das, was ich höre, vielleicht wie Lärm anmuten mag, aber doch immerhin ‚genial strukturierter Lärm‘ ist.

Was uns die Melvins seit 35 Jahren vorsetzen, ist selbstverständlich Musik. Aber, was sie uns vorsetzen, dehnt die Grenzen dessen, was Musik ist, beständig aus, indem es gegen Hörerwartungen und vor allem gegen gebräuchliche Metastrukturen von ‚Stücken‘ oder ‚Songs‘ etc. verstößt, die sich entwickelt haben, weil uns dies den Umgang mit Musik erleichtert.

Selbstverständlich gehen die Wahl-Kalifornier dabei nicht so weit wie Fantômas – jene Supergroup, bei welcher Melvins‘ Buzz Osborne auch noch mitwirkt. Die hatten auf ihrem Debüt jeglicher Struktur eine Absage erteilt – schon die Vorstellung, dass in einem Stück irgendein wiedererkennbares Element wiederholt eingesetzt werden könnte, um dem Stück damit wenigstens noch einen vagen Abglanz struktureller Geschlossenheit zu geben, erschien den Mannen um Mike Patton wohl absurd.

Aber selbst das ist ja noch Musik, selbst wenn es so weit geht, dass es – wenigstens, was das Bilden eines ‘in sich geschlossenen Ganzen‘ angeht – an den Grenzen der obigen sehr weit gefassten Definition kratzt und sie durchbricht.

Was uns die Melvins seit 35 Jahren vorsetzen, kratzt auch an den Grenzen der Definition. Und sie kratzen an einer ähnlichen Stelle. Sie testen die Dehnbarkeit des ‚geschlossenen Ganzen‘ jedoch, indem sie Rhythmen und Riffing gegeneinander auflaufen lassen, indem sie beispielsweise irre, vertrackte Schlagzeug-Folgen gegen Drone-Flächen schieben oder sich aufbauende Strukturen in den Stücken immer wieder – wie soll ich es ausdrücken – zerhackstücken, um den Hörer sich nicht zu gemütlich einrichten zu lassen.

Da zeigt es sich eben – die Melvins sind ein orchestrierter Regelbruch: Das Erkennbare, das eingeordnet werden kann, wird immer einem Element gegenübergestellt, das entgegensteht und songwriterisch etwas Besonderes aus dem Stück herausarbeitet.

Was uns die Melvins da also vorsetzen, ist Lärm – als Musik gefasster Lärm, genial strukturiert und verstörend. Zum Glück lässt sich so etwas mit Genrebezeichnungen wie Noiserock – wenn auch nur behelfsweise – greifbar machen.

MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

Redd Kross – Foto: Steve Sonntag

Kommen wir in diesem Zusammenhang mal auf Redd Kross zurück. Die Vorband ist bei uns nicht sonderlich bekannt, und trotz ihrer 37-jährigen Bandgeschichte ist es – so verkündet Bassist Steve McDonald – auch ihr erster Besuch in Europa. Die Gelegenheit scheint die Band nutzen zu wollen, um sich in ihrer gesamten musikalischen Bandbreite vorzustellen:

Ihre 13 Stücke zählende Setlist schleicht sich schön langsam von etwas, das man vielleicht als Tongue in Cheek Anti-Teenage Alternative Rock bezeichnen könnte, bis zu noisigen Klangcollagen. Erst dachte ich, sie hätten sich einfach von vorne nach hinten durch ihre Alben gespielt, weil die Song-Auswahl der ersten Hälfte des Auftritts ganz anders ist als jene der zweiten Häfte, welche verquerer, kantiger, besser daherkommt. Aber weit gefehlt!

1983, 1993, 2012, 2012, 1987, 1983 und 1990 sind die Geburtsjahre der ersten sieben Stücke, die zeigen, dass die Band sich doch einen schlüssigen Stil erarbeitet und erhalten hat, welcher vom Publikum auch goutiert wird. Gemeinsam haben diese Stücke jedoch, dass sie eingängiger, lustiger sind als jene im Anschluss.

Ich will damit gar nichts gegen eingängiges Songwriting sagen (dessen Fackel ich letzte Woche bei Anathema auch hoch hielt). Die sechs Stücke am Schluss sind einfach origineller, individueller und werden vom Publikum begeistert aufgenommen. Leider sind diese Stücke größtenteils nicht von Redd Kross selbst, sondern von The Beatles, Kiss, Tommy Boyce & Bobby Hart, The Stooges sowie David Bowie.

Dass die Band hier mit fünf Cover-Stücken in Reihe auftritt, hat damit zu tun, dass diese alle auf ihrer letzten Veröffentlichung zu hören sind – einer 2015 erschienen Neuauflage des Cover-Albums „Teen Babes from Monsanto“ aus dem Jahre 1984, das lediglich um besagtes Beatles-Cover („It Won’t Be Long“) erweitert worden war. Gemessen daran, dass das Publikum – soweit ich Stimmen hörte – von der zweiten Set-Hälfte sehr angetan ist, macht die Band da aber wohl nichts falsch. Und auch das Abschlussstück, „Linda Blair“, vom Debüt aus dem Jahre 1982 beweist, dass das alles gut zusammenpasst: als noisige Klangcollage eben!

Es stellen sich nur zwei Fragen:

  1. Warum hat die Band diese Stücke, die beim Publikum bei allem wohlwollenden Empfang so erkennbar viel besser ankamen, erst so spät ausgepackt?
  2. Warum kommt hier eigentlich eine Band auf Tour, die 2012 das letzte Mal eine neue Platte veröffentlicht und 2015 gerade mal einen Rerelease mit einem neuen Cover nachgeschoben hat?

Nun, zumindest die zweite Frage lässt sich sehr leicht beantworten:

MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

Melvins – Foto: Steve Sonntag

Man muss nicht zwei Mal hinsehen, um zu erkennen, dass außer Sänger und Gitarrist Buzz Osborne bei den Melvins zwei Musiker auf die Bühne kommen, die eben schon bei Redd Kross gespielt haben: Melvins-Schlagzeuger Dale Crover nämlich, welcher bei der Vorband eingesprungen war, und Steven McDonald, welcher seit vergangenem Jahr den Vierseiter der Melvins bedient und damit der sechste Mann auf dieser Position ist.

Und er passt da auch ganz gut hin, denn er bildet einen Gegenpol zu dem häufig wie eine Statuette wirkenden Osborne, der ja immer so eine seltsame Mischung aus einem engen, fast knöchellangen Hippie-Kleid und einer Soutane trägt – und noch dazu wie die Inkarnation der Definition des ‚Stehens‘ meistens beide Füße so eng nebeneinander stellt, dass er ein bisschen aussieht wie ein Zinnsoldat.

McDonald dagegen hampelt herum – etwas gefasster vielleicht als bei seiner eigenen Band und nun in schwarzen Federn statt in gelbem Hemd –, interagiert mit dem Publikum, schiebt sich zwischen jene an die Bühne gepresste erste Reihe und fällt gegen Ende des Sets gar einfach rücklings um wie einer, den der Sound aus den Latschen gekippt hat.

Und das ist ja sicherlich auch so. Das passt gut. Der Sound ist super: Er ist kristallklar und besitzt zugleich die nötige Fülle, um dem Publikum in den Magen zu fahren – vor allem, wenn sich die auseinander driftenden Instrumente wieder in einem gemeinsamen Einsatz treffen und uns beispielsweise eine Riff-Kaskade um die Ohren pfeffern.

MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

Melvins – Foto: Steve Sonntag

Und dann kommt eben dieses Melvins-Moment: Diese Musik greift einen wie ein Reißen hinter dem Bauchnabel und pfeffert einen in ihre ganz eigene Dimension. Eine in der man davon driftet, sodass einem die Songauswahl ganz egal ist, solange nur diese Gefühl nicht abreißt, mitgezogen zu werden dahin, wo die einzige Regel der Regelbruch ist.

Man sieht das so wunderbar am zweiten Stück „Oven“, wo Rhythmuswechsel auf Rhythmuswechsel triff und Breaks wie mit dem Salzstreuer verteilt scheinen. Oder in „Queen“: Man kann sich nicht einfach mitwiegen oder bangen, sondern stolpert von Groove in Break in irgendeine getragene Stelle in eine kalt-rhythmische Passage. Selbst das Beatles-Cover „I Want To Hold Your Hand“ gerät da völlig aus den Fugen.

Und da leuchtet es mir endlich ein: Bei den Melvins irgendwie willentlich gesteuert ‚mitzugehen‘ oder gar zu ‚tanzen‘ ist genauso vergeblich wie der Versuch, einfach nur dazustehen. Was man braucht, ist ein orchestrierter Regelbruch. Wenn man nicht stehen und nicht tanzen kann, kratzt man eben an der Definition bis man sie durchbricht:

Man platziert sich einfach ganz vorne mitten im Pit und stellt beide Füße so eng nebeneinander, dass man ein bisschen aussieht wie ein Zinnsoldat. Dann schließt man die Augen und beschränkt sich darauf, sich vom Boden in die Höhe zu drücken, schert sich nicht um Melodie oder Rhythmus oder Gleichgewicht. Wie die Musik der Melvins fällt man in jede Richtung in das sich gegeneinander aufschiebende Publikum – ganz Rhythmuswechsel, ganz Break – und nimmt jede dieser Schwingung auf, während alles um einen herum jede sich aufbauende Struktur wieder zerhackstückt.

Erst wenn man es so aufgibt, an gegebenen Definitionen festzuhalten, ist man ganz bei den Melvins angekommen.

MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

Melvins – Foto: Steve Sonntag

Redd Kross

Melvins

2 Gedanken zu „MELVINS, REDD KROSS, 28.10.2017, Manufaktur, Schorndorf

  • 7. November 2017 um 19:24 Uhr
    Permalink

    Mysteriös, welche Band habe ich dann am 21.01.1994 in der Röhre gesehen, wenn Redd Kross erst jetzt zum ersten Mal in Europa touren? Auf meiner alten Konzertkarte steht zumindest nichts von einer Cover-Band ;-)
    Da hat Steven McDonald entweder Blödsinn erzählt oder der Autor selbigen gehört.

  • 10. Oktober 2018 um 14:04 Uhr
    Permalink

    Mit fast einjähriger Verspätung doch noch dieses tolle Review gelesen – lieben Dank, Herr Kullak.

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