ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

Anathema – Foto: Sue Real

Anathema sind ein Urgestein. Sie waren Teil der ‚Big Three des Doom‘ und haben jahrzehntelang musikalische Maßstäbe gesetzt – stets so wechselhaft wie die Reflexionen in einem Diamant. Sie sind fast wie ein Soundtrack meines Lebens. Vorsicht: Es wird emotional!

Emotional ist gute Musik, glaube ich, immer. Es ist ja auch eine vor allem emotionale Wertung, wenn ich sage, dass „Hurt“ von Nine Inch Nails der beste Song ist, der je von einem Mann oder einer Frau geschrieben worden ist. Die besten Songs – im Sinne solcher Stücke, die aus mehreren Teilen bestehen – sind in jedem Fall „Untouchable Pt. I + II“ von Anathema. In ihnen sind alle Gefühle von Liebe und Verlust und Einsamkeit sowie die Loslösung und Heilung von denselben enthalten: eine reinigende Sublimation.

Aber Anathema befreien nicht nur davon. Sie sind eine Seelenwaschung, die alle Qual von einem abfließen lässt – alle Qual, in welcher sie und ich uns früher geaalt haben, alle Qual, der sie und ich früher nur zeitweise entkamen.

Noch vor dem Ende von „Untouchale Pt. I + II“ brechen mir bei dem Konzert drei Mal die Tränen aus – ohne einen triftigen Grund außer dem ungeheuren Gefühl der Befreiung, welche diese Songs schon seit ihrem Erschienen 2012 hervorriefen, heraufbeschworen. Es ist so, als träten Anathema auf und man selbst träte endlich ins Licht.

ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

Anathema – Foto: Sue Real

Dieses Licht durchstrahlt einen und euphorisiert. Es ist, als sei man in Glück getaucht. Dabei geht es nicht darum, ob es das beste oder eines der besten Konzerte ist, die man … Ich habe Anathema schon oft wunderschön gesehen. Nicht das erste Mal, aber heute erst recht, sind sie eine Offenbarung. Da sind all diese Melodien, die mich in Resonanz versetzen – zum Sterben schön, könnten sie schmerzhaft sein, sind es aber nicht. Da sind all diese Strophen, die ich auswendig mitsingen kann.

Ich überlege ein bisschen, wann oder wie oft ich mich in meinem Leben schon so befreit gefühlt habe. Es ist schwer und sinnlos, das zu bemessen. Ich verliere den Gedanken. Das Leben ist im Angesicht dieser Musik längst nicht mehr ein solch ‚leerer Garten, um darin zu weinen‘, wie in „Restless Oblivion“ (1995). Es ist auch längst nicht mehr so schmerzhaft wie in Trend Reznors „Hurt“ (1994).

Liegt es am Älterwerden? Irgendetwas ist mit uns passiert. Mit der Band. Das neue Album – bezeichnenderweise „The Optimist“ betitelt – ist in konsequenter Fortsetzung der Entwicklung der letzten oder aller Jahre der Geschichte von Anathema ungeheuerlich eingängig, schlicht, schön, schlicht schön – in jedem Fall nichts von dem, wofür wir, ich, die Band mal standen. Und doch könnte nichts diese Situation, in der ich mich befinde, besser ausdrücken als diese Musik, welche sie zugleich formt.

ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

Anathema – Foto: Sue Real

Seht Ihr, es ist die Frage eines sehr kleinen, aber entscheidenden Unterschiedes zwischen dem

This world is wonderful, so beautiful
If only you can open up your mind and see

im „Lightning Song“ von Anathemas „Weather Systems“-Album (2012) und Nick Caves

It’s a wonderful, wonderful life
If you can find it

von „Nocturama“ (2003), denn das erste liegt in unserer Hand, das zweite nicht.

Früher war immer „Temporary Peace“ mein Tränengarant:

And there’s so many, many thoughts
When I try to go to sleep
But with you I start to feel a sort of temporary peace

Aber 2001 ist lange her, und es ist auch nicht mehr „A Fine Day to Exit“, obwohl das immer noch eine unglaublich schöne Platte ist, denn jetzt und seit langem sind „Untouchable Pt. I + II“ meine Hymne.

ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

Anathema – Foto: Sue Real

Im wunderschönen Klassiker „Fragile Dreams“ von der lang abgewählten „Alternative 4“ (1998) fragt Danny Cavanagh am Ende des Sets:

Maybe I always knew,
My fragile dreams would be broken … for you

Das ist irgendwie Selbstbetrug, denn selbstverständlich hat man das nicht ‚maybe‘, sondern ‚definitely‘ gewusst. Aber das spielt alles keine Rolle, denn – wie es in „Untouchable Pt. I“ heißt:

There’s a feeling that I can’t describe
There’s a reason that I cannot hide
Because I’ve never seen a light that’s so bright …

ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

Anathema – Foto: Sue Real

„Nothing“, schreibe ich mir dann noch auf, „is better applause, than a kiss of lovers gray haired.“ Aber ich schreibe das nicht so sehr, weil das noch so ein ‚fragiler Traum‘ von mir ist, sondern weil es genau das ist, was ich vor mir im Publikum sehe. Und daher gilt wirklich und endgültig:

I’ve never seen a light that’s so bright!

ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

Anathema – Foto: Sue Real

Alcest

Anathema

2 Gedanken zu „ANATHEMA, ALCEST, 19.10.2017, LKA, Stuttgart

  • 26. Oktober 2017 um 23:03 Uhr
    Permalink

    Eine sehr intensive Beschreibung. Bei mir läuft dann gerade mal Anathema.
    Du hast gar nichts zu Alcest geschrieben.

  • 27. Oktober 2017 um 16:41 Uhr
    Permalink

    Sehr schöne Bilder und Bericht!

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