NICE NOISE NOW FESTIVAL, 27.06.2015, Kleiner Schlossplatz, Stuttgart
Das Thema hatten wir ja schon öfter, übertriebene Riesenfestivals sind nicht so unser Ding. Lieber alles schön übersichtlich und unstressig. Das Konzept des Nice Noise Now Festivals, veranstaltet vom Kunstmuseum Stuttgart, klingt daher direkt extrem attraktiv. Ein gutes Dutzend Bands tritt auf, jeder Act hat zwanzig Minuten Auftrittszeit. Beginn ist um siebzehn Uhr, Ende um zehn. Das Ganze findet auf dem Kleinen Schlossplatz statt. Der ist von vier Seiten locker eingerahmt von Gebäuden, aber immer noch luftig genug, um bei Bedarf jederzeit woanders hin zu entkommen. Die auftretenden Künstlerinnen, Künstler und Bands kommen alle aus Stuttgart und Umgebung und haben im engeren oder weiteren Sinn mit Kunst zu tun, darunter illustre Namen wie Levin Goes Lightly, All Diese Gewalt oder Rocket Freudental und eine Reihe uns nicht bekannter Acts.
Egal, das Schöne an den 20-Minuten-Slots ist ja, bei Nichtgefallen geht es wenigstens schnell vorbei. Soviel darf aber schon mal verraten werden, hörenswert oder zumindest unterhaltsam waren eigentlich alle Gruppen.
Die Leute beim Shoppen zu schocken, ist das übergeordnete, absolut ehrenwerte Ziel der Veranstaltung. Der Schockfaktor des Opening Acts hält sich dabei erstmal in Grenzen. Der zehnköpfige AKA-Chor singt sehr schön und harmonisch, begleitet von akustischer Gitarre Lieder in einer Sprache, die wir nicht identifizieren können. War höchstwahrscheinlich romanisch und/oder georgisch, wie später ein Blick in das liebevoll als DIY-Fanzine gestaltete Programmheft nahelegt. Ganz bescheiden steht die Gruppe dabei nicht einmal oben auf der Bühne, sondern im Halbkreis mitten im Publikum. Ein zuhörender Mitarbeiter des Cafés im Buchhaus Wittwer fühlt sich an den Kirchentag erinnert. Traumatisierungslevel mild.
Währenddessen macht sich auf der Bühne schon die nächste Band bereit, interessant verkleidet mit einem schwarzen Fang-den-Hut-artigen Riesenkegel auf dem Kopf bzw. nachtblauem Cowboyhut. Die Gruppe heißt Die Weissenhofer und macht leicht bierseligen Liedermacher/Rock’n’Roll-Sprechgesang. Musikalisch ist das im mittel-innovativen Bereich, aber nicht unsympathisch. Teil des Sets ist auch eine Coverversion des Joseph-Beuys-Protestsongs „Sonne statt Reagan“ von 1982.
Ein frappant an Andreas Dorau erinnernder Moderator (dazu später mehr) verabschiedet die Gruppe („Die Weissenhofer – interessant.“) und stellt die nächste Künstlerin vor. Experimentell Elektronisches gibt es von Nikola Lutz zu hören, gemischt mit hypnotischen, sich ständig wiederholenden Satzfetzen („I do not have any super power“, „The world is a dangerous place“). Die Künstlerin trägt Glatze und eine auffällige, nach Steampunk oder Alien aussehende Brille. Das ist auf jeden Fall mehr Performance als Song und wäre länger als zwanzig Minuten am helllichten Tag wahrscheinlich nur schwer zu verdauen.
Einer meiner Überraschungs-Favoriten ist der nächste Künstler/Musiker Bernhard B., der aus einer selbst gebauten, verschlossenen Sperrholzkiste mit schmalen Licht-/Luftschlitzen heraus Folksongs mit Gitarre und Mundharmonika spielt. Interessant zuzusehen, wie die Zuschauer erst einmal verwundert die unsichtbare Quelle der gedämpften Musik suchen und dann in gespannter Erwartung zu der Kiste hinströmen, die auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes steht. Neugierig trauen sich vor allem die umstehenden Kinder durch die schmalen Schlitze zu schauen und bestätigen mir, ja, ist jemand drin. Auch hier gelingt es dank der zeitlichen Begrenzung des Auftritts den Spannungsbogen zu halten. Überraschungsmoment plus drei Songs, perfekt.
Den Auftritt von Singsong-Girl alias Tamara Kapp, einer der Mit-Initiatorinnen des Festivals, bekomme ich zugegebenermaßen leider nur am Rande mit, wirkt aber sehr dynamisch, wie sie Schlagzeug spielt und singt. Hätte ich mir gerne näher angeschaut. Auch die spätere Internetrecherche ergibt, dass der One-Woman-LoFi-Elektropop sicher etwas für mich gewesen wäre.
Sehr gut gefällt mir Kostüm Total. Der Name klingt zwar ziemlich unspeziell, die Musik und der Auftritt in schwarz-weißem Fantasiekopfschmuck sind dafür umso überzeugender. Simpler, schnörkelloser Gesang, reduzierte Synthiesounds und eingängige Elektropopmelodie, das entspricht doch meistens meinem Geschmack. Und mit nerdigen Songtiteln wie „Geometrie, die jeder kann“ und „Räder im Weltall“ kriegt man mich sowieso jederzeit rum.
Überraschend und lustig ist der Kurzauftritt von Thomas Putze, der sich in knallorangener Straßenreinigungsmontur und mit E-Gitarre behängt über den Platz schleppt und dann ohne weitere Erläuterungen in Richtung Königsbau entschwindet.
Die Akademische Betriebskapelle ABK verbreitet anschließend florale Rocky-Horror-Picture-Show-Vibes in pink-lila-gelben Blumenkostümen irgendwo zwischen Loveparade für Kinder und Vogel Bibo.
Das Yürgen Karle Trio wird von den extra angereisten Besigheimer Fanboys mit Spannung erwartet. „Ziemlich viele für ein Trio“, wird da erstmal kritisch nachgerechnet. Noch während der Umbaupause raunt man mir ehrfurchtsvoll zu, dass ein Bandmitglied einst in einem legendären Geniestreich das Instrument Saxosaune erfunden habe. Musikalisch ist die Gruppe, die tatsächlich hauptsächlich auf selbst gebastelten Instrumenten spielt, dann doch sehr abstrakt und minimal, „eine Kakophonie der besonderen Art“ verrät ein Blick ins Programmheft. Den Songtitel „Die Läden sind noch offen“ finde ich zumindest als Liedtitel ziemlich brillant, musikalisch konnte mein an noisigen Impro Jazz wenig gewöhntes Ohr die Stücke allerdings kaum auseinander halten. „Kann das sein, dass ich Euch in Kobe im Goethe-Institut gesehen habe?“ fragt einer der Moderatoren die Gruppe nach dem Auftritt. Als Antwort kommt nur ein ratloses Schulterzucken seitens der Band. Hier bleibt viel Freiraum für eigene Interpretationen.
Der nächste Künstler Subke tritt auf einer etwas kleineren Seitenbühne auf und entpuppt sich als der uns schon vorher als Andreas-Dorau-Doppelgänger aufgefallene Conferencier. Auch musikalisch ist das alles ziemlich nah an Dorau, wahrscheinlich kein Zufall. Gefällt mir.
Währenddessen bereitet sich auf der Main Stage (ca. 1 m Luftlinie entfernt) die Gruppe Cannibal Girls auf ihren Auftritt vor (Gasmaske anziehen, Oberteil lüpfen). Erinnert mich jetzt spontan an Slipknot. (Disclaimer: Metal-Auskenner/innen bitte weglesen.) Ich bin leider während des Auftritts ein bisschen abgelenkt und kann die Show nicht so intensiv mitverfolgen, wie es meine Chronistinnenpflicht wäre. Nur soviel, im Moshpit tanzen männliche Fans mit Blumenkränzen im Haar. Niemand der Umstehenden hat je von dieser gar nicht mal so schlechten Band gehört. Später erinnert sich der Bekannte einer Freundin, er habe mal in einem Haus gewohnt, in dem die Gruppe aufgetreten sei, damals allerdings unter anderem Namen und er sei auch selbst nicht zuhause gewesen. Eine Facebook-Recherche ergibt, Freund Joe Whirlypop ist zumindest mal Fan und auf der Bandseite wird seit April 2013 fleißig gepostet.
Weiter geht’s mit den großartigen Rocket Freudental, auch hier muss bzw. möchte ich nebenher Freundinnen begrüßen und Bier trinken und bin etwas unkonzentriert. Starker Auftritt des Duos, was ich mitbekomme. Es wird mit selbstgebauten Instrumenten (Schlagzeug) hantiert und Sänger André singt schon mal in zwei Mikrofone gleichzeitig (hier was Kollege T. 2010 schrieb). Soziologin S. schätzt das Publikum inzwischen großzügig auf dreihundert, könnte knapp hinkommen.
Aufgrund der umfangreichen Gig-Blog-Berichterstattung im Archiv würde ich auf Levin Goes Lightly und All Diese Gewalt jetzt nicht mehr im Detail eingehen (interessierte Leserinnen und Leser dürfen hier (Levin) und hier (All Diese Gewalt) nachlesen). Beide Künstler überzeugen wie üblich mit düsteren New-Wave-Klängen (Levin) bzw. Ambient/Drone-Sounds (All Diese Gewalt). Beides womöglich eher für nach Sonnenuntergang und drinnen geeignet, rundet aber das Festival perfekt ab.
Gespannt fragen wir uns allerdings, wer/was ist denn jetzt eigentlich dieser Fizze, der zwischen den beiden Hauptacts spielt? Muss doch auch irgendwie bekannt sein. Nach einer umständlichen Anmoderation stellt sich heraus, es handelt sich bei Fizze um den umtriebigen Musiker und Bar-Macher Moritz Finkbeiner (Bonus-Faktoid aus Besigheimer Insiderkreisen: Er sah angeblich schon im Kindergarten wahnsinnig gut aus). Für dieses Projekt lässt er sich auf der Bühne mit schwarzem Klebeband knebeln und shoutet durch einen Stimmenverzerrer über einen Hardcore-Noise-Soundteppich. „Sado Maso“ kommentieren die jungen Zuschauerinnen neben mir fachmännisch. Flankiert wird er dabei auf der Bühne von zwei Teenagerinnen, die unter Zuhilfenahme wechselnder Musikinstrumente wie E-Gitarre, Blockflöte oder Sambarasseln ungelenk verschiedene Rockposen mimen. „Klingt wie Metal aus drei Kilometer Entfernung“ nagelt Kollege L. es wie üblich treffsicher fest.
Fazit: Ein spannendes, unanstrengendes Festival, das einen kompakten Einblick bot in das Schaffen der Stuttgarter Subkultur an der Schnittstelle zwischen Kunst und Musik. An das schöne Schlusswort aus dem Editorial des Nice-Noise-Now-Fanzine schließen wir uns hiermit gerne an: „Es lebe Nice Noise, aber wir bleiben Untergrund. Prost!“