CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Der glitzernde, silberne Vorhang öffnet sich und ich bin von der ersten Sekunde an Fan von „Cirque“, der neuen Show im Friedrichsbau Varieté. Denn die Falsettstimme von Marty Jacques, begleitet von seinem quietschenden Akkordeon, erklingt aus dem Off und mischt sich mit Applaus aus der Ferne. Gerade geht eine Zirkusvorstellung zu Ende. Ich bin nicht nur begeistert, sondern direkt tiefenentspannt, denn was soll hier schon schiefgehen, wenn als Allererstes meine heißgeliebten Freaks, die Tiger Lillies zu hören sind?

Bis hier hin war es schon ziemlich aufregend. Heute Abend ist der Gig-Blog mit Ralph als Fotograf und mir für den Text zum ersten Mal im Friedrichsbau Varieté zu Gast. Über Konzerte im benachbarten Theaterhaus auf dem Pragsattel gibt es selbstverständlich schon viele Blogbeiträge, aber aus der Halle für Kleinkunst daneben haben wir noch nie berichtet.

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Vor zehn Jahren ist das Varieté gezwungenermaßen aus der Innenstadt hier her umgezogen, doch bisher scheint es noch nicht so recht angekommen zu sein. Es gibt Pläne, dass ab 2028 ein festes Zuhause in einem Anbau am eben schon erwähnten Theaterhaus zur Verfügung stehen soll. In der jetzt bespielten säulenlosen „Übergangs-Halle“ ist die Bühne mit dem kleinen Steg ins Publikum auf jeden Fall wunderbar hoch gebaut. Dadurch werden die Darbietungen von jedem Platz aus gut sichtbar sein, auch wenn sie später etwas bodennäher stattfinden sollten.

Es ist also eine Premiere für den Gig-Blog, für „Cirque“ bereits der zweite Abend in der dreimonatigen Spielzeit. Wir sitzen etwa in der Mitte des Zuschauerraums. Die langen Tafeln haben weiße Tischdecken, die Stühle sind plüschig bequem. An das leise Besteckklappern im Hintergrund muss ich mich erst noch gewöhnen, doch ich finde es definitiv angenehmer als Leute, die beim Konzert schwätzen! (Im Varieté werden bis zum Beginn der Show Getränke und Essen serviert, und man kann sogar die Menüs im Voraus bestellen.)

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Aber zurück zur Handlung: Als der Vorhang sich öffnet, werden wir in die Szenerie eines kleinen Wanderzirkus irgendwo im Nirgendwo versetzt. Rechts steht der Zirkuswagen, links befindet sich quasi der „Pausenraum“ unter einem rot-weiß gestreiften Zeltdach. Die acht Artistinnen haben Feierabend und könnten sich eigentlich ausruhen. Doch Merlin Johnson, der shabby-schicke Zirkusdirektor und Ansager, präsentiert die Truppe nun stolz dem Publikum und Handstandakrobat Robert Best zeigt auf einem Stapel Autoreifen die erste Nummer. Sein Unterhemd wäre dabei offensichtlich nur im Weg und wird kurzerhand ausgezogen. Das besonders frühe Ablegen der Oberbekleidung bleibt bei Konzerten ja in der Regel dem Drummer überlassen, aber im Varieté sind die Regeln offenbar doch ein bisschen anders! Aus- und Anziehen ist über den ganzen Abend hinweg sowieso ein Ding, die Scherze dazu reichlich, eher bodenständig, aber grade noch so, dass es nicht unangenehm wird.

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Während Robert Best seine ölige Kraftnummer präsentiert, singt der knorrige Tom Waits und der Applaus ist groß. MC Merlin – übrigens weder verwandt noch verschwägert mit DEM Merlin Kulturzentrum – holt eine „Style 0“ Brass Guitar hervor (Genau, das ist die vom Cover von „Walk of Life“ von den Dire Straits!) und singt über den Zirkus, wo alle ein mühsames Leben teilen, aber auch die gleichen Träume haben. In der Manege spielt es keine Rolle, woher man kommt, solange alle zusammenhalten. Und als die mysteriöse Neuankömmling Coco sich nachts auf den Platz schleicht, wird sie bei Sonnenaufgang im Künstlercamp mit offenen Armen und als Teil der Zirkusfamilie empfangen.

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Aber noch wird die Rolle von Coco nicht (wortwörtlich) enthüllt. Stattdessen entledigt sich Ofelia Grey ihres bunten Satinmantels und zeigt eine flotte Hula-Hoop-Nummer. Anschließend zersäbelt Lisa Chudalla zuerst eine Karotte, um das dafür verwendete Schwert anschließend zu „Ballroom Blitz“ von Sweet zu verschlucken und sich ein paar Zimmermannsnägel in die Nase zu hauen. Das ist creepy, aber auch mega cool, genau wie ihre großflächigen Tattoos auf dem ganzen Körper.

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Die „Neue“, Burlesque Tänzerin Coco Belle, mit ihren geschmeidigen Wasserwellen im dunklen Haar, tauscht bei ihrem Küchendienst die Geschirrtücher gegen puderfarbene Straußenfedern und präsentiert einen verführerischen Tanz. Jana Vogel rockt als nächste Nummer am „Aerial Hoop“ zu „How the Gods Kill“ von Danzig unter der Bühnendecke. Das ist alles fließend aneinander gereiht und mit einer tollen Zaubernummer von Merlin und Assistent Helmut, bei der natürlich überhaupt nichts klappt – spätestens seit den Internet-Zauber-Superstars Siegfried & Joy ist das mehr oder weniger Pflicht! – sind wir schon in der Pause angekommen.

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
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Der Vorhang öffnet sich wieder und die acht Akrobat*innen und die Tänzerin stehen für eine Dusche unter freiem Himmel an, in der Clown Helmut nicht nur mit der richtigen Wassertemperatur kämpft. Zu „Mandy goes to Med School“ von den Dresden Dolls nutzt Ofelia Grey mit ihrer Jonglage nochmal die volle Höhe aus, die die Varieté-Bühne hergibt.

Und direkt im Anschluss wird es nochmal ganz klein und super niedlich: Conférencier Merlin (der universalbegabt den Abend über auch noch tanzt und zaubert) dressiert einen winzigen Löwen, aber zum Glück ohne gegen das in Stuttgart geltende Verbot von Vorführungen mit Wildtieren zu verstoßen. Es gibt eben für alles eine klügere Lösung!

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Und nicht nur die Dompteurs-Nummer wird in Cirque abgewandelt, auch die Flugnummer am Vertikaltuch. Statt der üblichen roten Tücher, die fast schon langweilig geworden sind, windet und wickelt sich Lisa Chupalla zu den Songs von Nico Vega um eine Stahlkette. Für diese atemberaubende Darbietung gibt es viel Applaus und offene Münder, ebenso wie für die schnellen „Ikarischen Spiele“ von Aleksandr und Vlad. Zu „Here Comes the Circus“ von Apollo Circus wirbelt der große Artist den kleineren dabei so wild herum, wie der Song aus den Boxen laut nach vorne geht.

Die Kirsche auf dieser 10 von 10 Show-Sahne serviert zum Finale nochmal die wunderschöne Coco Belle zu Benny Goodmans „Sing, Sing, Sing“. Sie lässt die Hüllen fallen und die Fächer fliegen, bevor sich das Ensemble vom Publikum verabschiedet.

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
Foto: Ralph Pache

Mit herausragenden Künstler*innen, Kostümen, die auf das Nötigste reduziert sind und sorgfältig ausgewählter Musik erschafft „Cirque“ einen großen Zirkus, der in der von Regisseur Ralph Sun sehr gut erzählten Geschichte gar nicht zu sehen ist, sondern im eigentlich nicht für jede*n zugänglichen Backstage stattfindet. Mir hat dabei in den knapp zwei Stunden absolut nichts gefehlt – ganz im Gegenteil! – außer vielleicht ein klitzekleines bisschen Konfetti. Aber das hätte ja dann eh nur in den Getränken und auf den Käsetellern geklebt.

Bis Anfang Juni 2024 gibt es mindestens vier Cirque-Vorstellungen pro Woche (Tickets ab 39 Euro). Allen aus dem internationalen Team auf und hinter der Bühne Toitoitoi und eine wundervolle Zeit in Stuttgart!

CIRQUE, 16.03.2024, Friedrichsbau Varieté, Stuttgart | Foto: Ralph Pache
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