ELLA CARINA WERNER, 03.03.2024, Merlin, Stuttgart

ELLA CARINA WERNER, 03.03.2024, Merlin, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
Foto: X-tof Hoyer

Sonntags, 11 Uhr. War ich jetzt auch noch nie bei einer Lesung. Eine Uhrzeit, zu der sich Leute beispielsweise den Doppelpass oder den ZDF-Fernsehgarten im TV antun, andere Schnaps in der Bahnhofskneipe oder Dixieland beim SPD-Stammtisch, und ganz Vereinzelte sich noch die allerneuesten Jesus-News in der Kirche. Nicht so wir, die Ella Carina Werner Fanboys und Fangirls (letztere mehrheitlich), die sich im sehr gut besuchten Merlin einfinden.

Die Satirikerin, u.a. langjährige Titanic- und taz-Autorin, betourt gerade ihre aktuelle Geschichtensammlung “Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen”, und hat kaum die Bücher gestern Abend in Karlsruhe zugeklappt, dass sie heute Morgen gleich weitermachen muss. Gestern Abend vor lauter betrunkenen (evtl. falsche Behauptung) Badenern, heute vor Kaffee schlürfenden, schwäbisch gelesenen Leuten. Krasser oder evtl. doch nur (von mir) hochgejazzter Kontrast?

Schon lange war sie nicht mehr in Stuttgart, führt sie in ihren Auftritt ein, und sie sei doch überrascht, wie sehr dieser neue Bahnhof noch nicht fertig sei. Resignierte Zustimmung des Publikums. Ihre erste Geschichte “Schlechter Flirt” leitet ECW mit Ausführungen ein, dass viele ihrer Geschichten sich mit dem Thema “Älterwerden” beschäftigen. Ein Umstand, den sie als hocherfreulich und frei von jeglichen Nachteilen empfindet. Zögerndes, arthritisches Klatschen des älteren Teils des Publikums.

Die hochkomische Geschichte erzählt, wie junge Männer im Dunkeln ihr gegenüber einen Anmachversuch starten, im Glauben, es mit einer jungen Frau zu tun zu haben. Die Erzählung nimmt eine Kehrtwende von bedrohlich zu komisch, als auf den Satz der Männer “Wir gehen gerade ins Molotow” sie dann doch das erste Mal, etwas zu euphorisch mit  “Im Molotow war ich schon seit 20 Jahren nicht mehr” antwortet. Es folgt eine paradoxe Umkehrung der Verhältnisse, in denen sich nun die jungen Männer mit dem Weggeh-Enthusiasmus “der Alten” und dem Schwadronieren von Früher (“Britpop, Britpop, Britpop”) konfrontiert sehen und eigentlich nur noch schnell nach Hause wollen.

ELLA CARINA WERNER, 03.03.2024, Merlin, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
Foto: X-tof Hoyer

Anlässlich ihres 40sten Geburtstags, der vor 4 Jahren war, wie sie uns völlig uneitel informiert, schrieb sie “Vierzig”. Eine facettenreiche Aufzählung der unzähligen Vorteile, die eine Frau mit dem Erreichen dieser Altersmarke erwarten. Nicht mehr der Druck fuckable sein zu müssen, oder endlich die Möglichkeit, sich einen Jahrzehnte jüngeren Mann angeln zu können “wie diese coole Sau Brigitte Macron” sind einige, die bei mir hängengeblieben sind. Da Ella Carina Werners Stimme, Ausstrahlung und Lesekunst top sind, gewinnen die ganzen Pointen tatsächlich noch live.   

In “Das zehnte Jahr” wird der im zehn Jahre Turnus stattfindende Besuch im Dessous-Laden erzählt, nachdem die google Unterwäsche-Suche in der Kombination “flott” + “Hauptsache robust” + “wärmt im Winter” Null Treffer lieferte. Die Pointenschleuder ist in diesem Fall, die sehr aufdringliche und zu direkte Verkäuferin. So ordnet sie ECW als Modetyp “sportlich” ein. Ein Adjektiv, wie Ella Carina anmerkt, dass sie immer zu hören bekomme, wenn jemand nach einem passenden Adjektiv jenseits von “schick“ und “feminin” suche. Der vor mir sitzende Satiriker Kollege Cornelius W. M. Oettle scheint sich auch gut zu beoetteln beömmeln.

ELLA CARINA WERNER, 03.03.2024, Merlin, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
Foto: X-tof Hoyer

Da ihre satirischen Werke so wenig Hass und Widerrede hervorrufen würden, ist sie besonders stolz auf den Text, in dem sie Ü40-Männer beschreibt. Dass die saulustige äußere wie innere Zustandsbeschreibung besagter Kohortengruppe tatsächlich zu solchen Reaktionen führte, bestätigt wirklich schlimmste Vermutungen, wie armselig es in bestimmten, maskulinen Schädeln zugeht. Aber ich habe ja leicht reden, da der Text mich als Ü50er nicht betrifft.

Die Geschichten “Ein guter Abgang” und “Beim Frauenarzt” stammen aus dem Vorgängerbuch “Der Untergang des Abendkleides”. Die Erstere handelt über die zähen Verhandlungen mit der eigenen Mutter, wie denn ihre, die der Mutter, Beerdigungsfeier auszusehen habe. Aufgrund Mutters Musik- und Gestaltungsvorstellungen (Panflötenversion von Wind Of Change z.B.) fürchtet ECW Rückschläge für ihre eigene Reputation. In der zweiten Erzählung ist das Unwohlsein bei einem neuen Frauenarzt das Thema. Junger Gynäkologe mit moderner Jugendsprache samt smarten Aussehen, da fühlt sie sich nicht wohl und gut aufgehoben. Wie in allen ihren Texten, ein hochgenauer Blick in die Gedankenwelt moderner Individuen und dem sich Zurechtfinden in der Welt.

Der extrem kurzweilige Auftritt der großen Wortkünstlerin findet mit einer Auswahl an fabelhaften feministischen Tiergedichten sein würdiges Ende. Dieses ist nicht dabei, aber mein vorläufiger Favorit:

Die Eule liebt sich, wie sie ist:
Anarcho-Punk und Antichrist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.