ARCHIVE, 25.10.2023, LKA Longhorn, Stuttgart

Archive
Foto: Reiner Pfisterer

Die 90er. Das Jahrzehnt, in dem man an „anything goes“ glaubte, wie Jens Balzer in seiner sehr lesenswerten Epochenanalyse „No Limit“ aufzeigt. Aus musikalischer Sicht scheint es in der Retrospektive bis dahin kein heterogeneres Jahrzehnt gegeben zu haben, ein Jahrzehnt, in dem man irgendwie alles hörte und sich keine Genregrenze setzen lassen wollte, aber sich letztendlich doch bestimmten musikalischen Vorlieben hingab, die dann auch die individuelle Alltagswelt bestimmten. Es war ein großer Unterschied, ob man nun Techno hörte, Britpop verfallen war oder Grunge zu seinem favorisierten Genre machte und beschloss für den Rest seines Lebens Baumwollhemden zu tragen.

Aus Bristol machte sich damals ein Sound auf, die Welt zu erobern, der die Destillation von vielen Genres und popkulturellen Einflüssen war und der wahrscheinlich bis heute, auch in seiner Weiterentwicklung und musikalischen Interpretationen einen der besten Soundtracks der Postmoderne bildet: TripHop.

„Dummy“ von Portishead ist bis heute ein Meilenstein der Musikgeschichte und „Mezzanine“ von Massive Attack ist, jedenfalls in meiner persönlichen Favoritenliste, eines der besten Alben, das jemals veröffentlicht wurde.

In dieser Zeit gründete sich, beeinflusst von Massive Attack, Archive und entwickelte ihren musikalischen Stil, über einige Bandformationen hinweg, stetig fort, entfernte sich vom TripHop hin zu einem musikalischen Genre, das nur noch schwer zu fassen ist, bei dem das Elektronische dennoch die musikalische Grundlage bildet.

Archive
Foto: Reiner Pfisterer

Mit flirrenden Synthiearpeggien fängt das Konzert an, die Band betritt wenig später die Bühne und spielt mit Mr. Daisy, das sich auf dem 2022 erschienenen wieder mal sehr tollen Album „Call to Arms & Angels“, nachdem auch die Tour benannt ist, befindet, den ersten Track des Abends. Bald stehen acht Musiker:innen auf der Bühne. Acht Menschen, das bedeutet natürlich per se eine Wall of Sound, die da ins LKA Longhorn hineingetragen wird, die an der einen oder anderen Stelle nicht ganz leicht zu beherrschen ist.

Der Übersong „Bullets“ (ihr wisst schon: personal responsibility, personal responsibility, personal responsibility …) folgt an dritter Stelle und spätestens hier fing dieser Sog an, dem man sich nicht entziehen kann, Track für Track wird man tiefer in das Universum dieser musikalischen Geschichtenerzähler gezogen, Tracks, die alle miteinander verwoben zu sein scheinen, obwohl jeder Track für sich herausragend ist.

Dies ist diese andere besondere Qualität von Archive: ein unglaubliches gutes Songwriting, das auch über die vielen Jahre, die sie schon unterwegs sind, nicht nachzulassen scheint, wie man unter anderem an dem neuen Song „Vice“ sieht. Hinzu kommen die Texte, transzendieren zwischen denen, die geradezu nach einer Hermeneutik verlangen (ihr wisst schon: personal responsibility, personal responsibility, personal responsibility…) und den anderen, wie „Fuck You“, die in ihrer Radikalität wenig Interpretationsraum (ich will nicht wissen, wie oft dieser Song schon verschickt wurde, wenn Beziehungen in die Brüche gingen) lassen.

Archive
Foto: Reiner Pfisterer

Bei „Surrounded by Ghosts“ betritt die Sängerin Lisa Mottram die Bühne und bereichert die anderen zwei hervorragenden Sänger und Gitarristen Pollard Berrier und Dave Pen, ein Song, der im Kern aber auch die stetige Weiterentwicklung dieser Band zeigt, Harmonien und die Stimme von Martin, die zunächst alles andere als den dystopischen Inhalt des Songs vermutet lassen, eine Dialektik, die oft bei Archiv zu finden ist, eine Dialektik, die diesen besonderen Clash zwischen Form und Inhalt erzeugt:

There’s a war/There’s a war, still raging
Battle cry/Battle cry ain’t fading
And if they stay alive/You can tell them what we’ve won
And if you stay alive/You can tell them what you’ve done
So surrounded
By ghosts

So mag dann letztendlich vielleicht das stärkste Asset von Archive tatsächlich darin liegen, eine Atmosphäre zu erzeugen, die dicht, bewegend und ergreifend ist, Songs, die man sich intellektuell erschließen kann, wenn man denn will oder anderseits sich ganz und gar den Emotionen hingeben: Something for you mind, your body and your Soul.

Ganz in diesem Sinne schließt das Konzert mit dem wunderbaren, wunderschönen, elegischen „Again“ in voller Länge.

Archive
Foto: Reiner Pfisterer

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.