GIANNA NANNINI, 07.06.2022, MHP Arena, Ludwigsburg
Italien gilt spätestens seit Goethe bekanntlich als das „Sehnsuchtsland aller Deutschen“ und auch im Pop ist die deutsche Italienliebe bis heute allgegenwärtig. In den vergangenen Wochen landete etwa die bayrische Gruppe Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys mit ihrem ironischen Italoschlager einen spaßigen Marketingcoup und auf dem ersten Platz der deutschen Albumcharts; flogen in der Folgewoche aber schon wieder ganz aus den Charts. Gig-Blog-Lieblingsmusikjournalist Eric Pfeil erklärt uns in diesem Frühsommer mit seinem Buch „Azurro“, einem „Reiseführer ohne Sehenswürdigkeiten“, anhand von hundert Songs die musica leggera und den anhaltenden Erfolg italienischen Liedguts.
Als nun Gianna Nannini – „Gianna nazionale“, wie man die Grande dame der italienischen Rockmusik in ihrem Heimatland nennt – ihr pandemiebedingt mehrfach verlegtes Konzert endlich in der Ludwigsburger MHP Arena nachholen kann, verhindert ein heftig einsetzender Regenschauer am frühen Abend, dass man sich vorab mit einem Aperol Spritz oder einem gelato auf das Konzert hätte einstimmen können. Doch Nannini, die Rockikone mit der unverkennbaren rauen Stimme, lebt seit längerem mit Lebensgefährtin und Tochter in London und überhaupt wäre ein derart beschaulicher Aperitif vor dem Konzert der erstaunlichen Urgewalt ihres Auftritts nicht gerecht geworden: „Wir sind Rocker, wir sind Rocker“, ruft Nannini dann auch, die mit enormem Bewegungsdrang in einem weiten violetten Anzug und in weißen Turnschuhen über die Bühne rennt, stakst, wirbelt und springt. Unwillkürlich fragt man sich, ob es wirklich sein kann, dass die agile Frau auf der Bühne in genau einer Woche bereits ihren 68. Geburtstag feiert. Aber es muss so sein: Ihr Debüt war immerhin schon 1976 erschienen und in den knapp hundert Minuten des Konzerts bekommt das Publikum dementsprechend das zu hören, was man wohl als „Greatest Hits“ bezeichnen kann – und doch ist es mehr als das.
Nannini, die bekanntlich Musik, Literaturwissenschaft und Philosophie studiert hat, mit summa cum laude promoviert wurde und sich mit Heidegger auskennt, präsentiert einen beeindruckenden Querschnitt durch ihr mehr als zwanzig Studioalben umfassendes Œuvre. Zur Eröffnung singt sie mit „L’aria sta finendo“ einen wuchtigen Rocksong von ihrem 2019 erschienen aktuellen Album. Das Publikum ist sofort elektrisiert, verlässt die Sitze, klatscht rhythmisch, singt mit und jubelt der international wahrscheinlich bekanntesten Sängerin der italienischen Popgeschichte zu, die prompt den Mikrofonständer umwirft. Mit lässiger Grandezza konterkariert die aus Siena stammende Feministin Nannini die Machismen der Rockmusik. Die Halle steht nach wenigen Takten und die meisten werden sich nicht wieder hinsetzen.
Und was ist das auch für ein großer Spaß: Klassiker wie „Primadonna“ oder „Scandalo“, die recht neue Ballade „La differenza“, das ikonische „I maschi“, große Songs und Hits folgen aufeinander. Zum Atemholen bleibt dem Publikum wenig Zeit und auch Nannini gönnt sich keine Pause. Bei „Ragazzo dell’Europa“ schwenken Zuschauer*innen Italienflaggen. Natürlich könnte man viele der Lieder kitschig oder zu pathetisch finden. Doch spätestens als schließlich die großen, teils einst von Conny Plank produzierten Hits „Fotoromanza“, „America“, „Latin Lover“ und – natürlich – „Bello e impossibile“ direkt aufeinander folgen, kann man nur beglückt feststellen, wie überraschend gut nicht nur Gianna Nannini, sondern auch diese Songs gealtert sind – auch inhaltlich, wie Eric Pfeil etwa herausstellt, ist der nicht eben kitschfreie Text von letztgenanntem Lied durchaus queer lesbar.
Die kurze Verschnaufpause vor den Zugaben dürfte ihr dennoch gutgetan haben, das Publikum wiederum wartet geradezu enthusiastisch auf ihre Rückkehr. Vier Songs wird es noch geben, darunter wunderschöne Klassiker wie „Sei nell’anima“, „Meravigliosa creatura“, bei denen das Publikum Nanninis Aufforderung zum Mitsingen ebenso textsicher wie lautstark annimmt wie beim Italoevergreen „Nel blu dipinto di blu“ („Volare“) in einer reggae-esken Neuinterpretation. Während man traurig feststellt, dass sich das extrem kurzweilige Konzert schon seinem Ende neigt, freut man sich noch einmal darüber, wie viel Spaß die fünf Mitmusiker und vor allem Nannini selbst an ihrem Auftritt haben. Die Band verneigt sich und Nannini, die sich bei der Bandvorstellung selbstverständlich mitgenannt hat, nimmt eine weiße Rose aus dem Publikum entgegen. Der Applaus ebbt nicht ab und die Band bleibt auf der Bühne.
„Un’estate italiana“, der von Giorgio Moroder geschriebene offizielle Song zur Fußballweltmeisterschaft 1990, der für Gianna Nannini und ihren neapolitanischen Duettpartner Edoardo Bennato ein großer Hit wurde, bildet den umjubelten Schlusspunkt eines fantastischen Konzerts. Die letzten Töne sind verklungen, Nannini saugt den weiterhin nicht enden wollenden Beifall auf, läuft auf und ab, winkt ins Publikum, ihr Schlagzeuger schenkt einem auf den Schultern seines Vaters sitzenden Jungen einen Drumstick. Gianna Nannini verteilt Luftküsse, dankt. Das Pathos, die ganz großen Gesten, sie sind authentisch und rührend. Vom Band läuft David Bowies „Heroes“, während sich der Saal langsam leert. Draußen ist es noch nicht dunkel, der Regen ist verschwunden, am Horizont geht die Sonne unter, und er soll ja in den nächsten Tagen auch zurückkommen, der Sommer und mit ihm entspannte Aperitifs unter freien Himmel und die Sehnsucht nach un estate italiana, einem italienischen Sommer.