ERIC PFEIL „AZZURRO“, 29.05.2022, Merlin, Stuttgart
Na sowas, heißt die Pizzeria direkt neben dem Merlin wirklich Italo Disco? Schnelle Internetrecherche ergibt: Ist tatsächlich so, und anscheinend auch schon länger. Kurz vermutet, der rote Schriftzug in riesigen Lettern wurde zu Ehren von Eric Pfeil hier angebracht. Der liest heute aus seinem neuen Buch „Azzurro – Mit 100 Songs durch Italien“ (KiWi) und dem Merlin wäre eine solche Huldigung durchaus zuzutrauen.
Netter Zufall: Am Tag zuvor stellten die mit Eric Pfeil freundschaftlich verbandelten Erdmöbel ihr aktuelles Album „Guten Morgen, Ragazzi“ im Scala in Ludwigsburg vor. Perfekte Veranstaltungs-Kombi, um trotz frischer 14 Grad Außentemperatur mental in Richtung Frühsommer zu sliden.
Das Merlin hat thematisch zur Veranstaltung passende Drinks im Angebot. Verkaufsschlager ist der an die Siebziger gemahnende Retro-Aperitif Negroni in rot und orange mit dezentem Hustensaft-Bouquet. Vorab läuft eine sanft dahinplätschernde, zum Buch passende Playlist, dazu die vielen netten Leute, das ist ja fast wieder wie früher.
Der Saal ist gut gefüllt, verheißungsvoll klackern die Eiswürfel in den Cocktail-Gläsern. Das Bühnenlicht ist stimmungsvoll, rechts hinter dem Vorlesetisch ist eine Leinwand für Projektionen aufgebaut. Pünktlich um 18 Uhr geht’s los; „Il ragazzo della via Gluck“ (1966) von Adriano Celentano hat der Autor als Auftrittsmusik gewählt.
Zum Einstieg lauschen wir einer allgemeinen Einführung zum Ursprung der Italien-Begeisterung von Eric Pfeil, die in der Kindheit und Jugend begann. Familie Pfeil fuhr im Sommerurlaub bevorzugt Richtung Süden und auf der Fahrt in die Ferien durfte der passende Soundtrack natürlich nicht fehlen.
Gezeigt werden zur Illustration einige, wahrscheinlich auch schon damals leicht befremdlich wirkende Cover von typischen Italo-Pop-Samplern der Achtziger.
Ins eigentliche Thema steigt Pfeil dann mit einer zumindest hierzulande eher weniger bekannten Gruppe ein, Colapesce Dimartino. Deren Hit von 2021 „Musica leggerissima“ (heißt übersetzt „sehr leichte Musik“, oder eben Unterhaltungsmusik) fasst schon im Titel zusammen, was bezeichnend ist für die italienische Musikkultur – unangestrengte Leichtigkeit, zumindest scheinbar abgekoppelt von allem, was ernst oder belastend sein könnte.
Colapesce Dimartino haben letztes Jahr außerdem zusammen mit der wohl sehr bekannten Sängerin Ornella Vanoni (Jahrgang 1934) das gemeinsame Stück „Toy Boy“ veröffentlicht. Diese Zusammenarbeit bildet so etwas wie eine generationenübergreifende Klammer zwischen den Ursprüngen der italienischen Unterhaltungsmusik und dem, was das Genre heute zu bieten hat.
Ausführlich wird das seit 1951 stattfindende Sanremo-Festival thematisiert. Egal, wie gemischt man die Gesamtqualität der dort dargebotenen Stücke bewerten mag, der Wettbewerb ist eine Quelle der zeitgenössischen italienischen Popularmusik, um die man wahrscheinlich nicht herumkommt. Und die Showelemente sind natürlich super.
Gut gefallen mir die seltsamen Zitate, verrückten Anekdoten und überraschenden Hintergrundinfos, von denen Eric Pfeil jede Menge mitgebracht hat.
Mir komplett neu zum Beispiel, dass sich der Italo-Disco-Hit „Vamos a la playa“ (1983) mit Umweltverschmutzung und der atomaren Bedrohung im Kalten Krieg befasst. Hier ein sehenswertes Plattencover des Duos.
Was mir am Vortrag (und am Buch) sehr gut gefällt ist, dass es keineswegs um die veralbernde Zurschaustellung von Kuriositäten geht. Eric Pfeil nimmt sein Thema ernst, alles ist irrsinnig genau recherchiert und zusammengepuzzelt.
Tatsächlich ähnelt „Azzuro – Mit 100 Songs durch Italien“ inklusive Quellenangaben und ausführlichem Namensregister eher einer glamourösen, gut lesbaren Doktorarbeit als leicht konsumierbarer Strandlektüre.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Pfeil in anderthalb Stunden nur einen winzigen Bruchteil der im Buch genannten Lieder aufgreifen kann. Wäre interessant zu wissen, nach welchen Kriterien die Stücke ausgewählt wurden und ob die Auswahl von Lesung zu Lesung variiert.
Eine gute dramaturgische Entscheidung war es übrigens, die Songs, um die es in den ausgewählten Kapiteln geht, wirklich nur ganz kurz anzuspielen. So bekommt man zumindest einen kurzen Soundschnipsel zu hören, spart sich aber die Längen, die gemeinsames andächtiges Musikanhören aus der Konserve haben kann.
Erstaunlich schnell sind neunzig Minuten vorbei. Könnte von mir aus auch einfach nur Auftaktveranstaltung einer wöchentlichen Vorlesungsreihe sein.
Natürlich bin ich wegen der Lesung hier, aber ich spekuliere auch darauf, dass heute noch irgendwas mit Mondo Sangue passiert. Immerhin hat das Duo mit Eric Pfeil nicht nur für den fiktiven Film-Soundtrack „Rosso come la notte“ zusammengearbeitet, es hat auch eine kongeniale Neuversion des Eric-Pfeil-Sommerhits „Radio Gelato“ von 2014 aufgenommen.
Auf einen Live-Auftritt scheint es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hinauszulaufen, denn Yvy Pop und Christian Bluthardt tragen den Abend über kein Bühnenoutfit, sondern unauffällige Zivilkleidung.
Dass zumindest noch ein Programmpunkt kommt, ist allerdings klar, als die beiden ein bisschen schüchtern zu Eric Pfeil auf die Bühne steigen, bewaffnet mit der gemeinsamen Single im weißen Holzrahmen. Die gerahmte Single wird feierlich überreicht, quasi Goldverleihung der Herzen. Aber das war natürlich noch nicht alles.
Die Leinwand im Hintergrund scheint nochmal eine Rolle zu spielen, und tatsächlich, Vorhang auf, endlich erfahren wird es: Mondo Sangue haben mit der Regisseurin Hannah Deusch ein Video zu „Radio Gelato (`81 Mondo Originale Mix)“ produziert.
Die beiden Protagonist*innen singen und schauspielern darin voller Elan vor vermeintlich mediterraner Kulisse (Max-Eyth-See und Züblin-Parkdeck). Ohne nochmal zu recherchieren, wie Ricchi e Poveri genau aussehen, für mich verkörpern Yvy und Christian den Spirit perfekt. Der haarscharf am Schlageresken vorbeischrammende Sound trifft den Nagel sowieso auf den Kopf – als Kompliment gemeint.
Nicht nur wegen der übertrieben cuten Darsteller*innen, der Musik und den tollen Bildern, auch wegen der liebevollen Ausstattung kann man das Video immer wieder schauen. So hat Erics Buch einen Cameo-Auftritt als Ferienlektüre und es gibt ein Wiedersehen mit dem lustigen „Piedone“-Eis* bekannt aus dem Original-Clip.
Für das Video gibt es entsprechend begeisterten Applaus, logisch. Die Überraschung ist gelungen.
Absolut herzerwärmender Abend und ganz große Eric Pfeil & Mondo Sangue-Liebe. Wenn der Sommer so weitergeht, wird’s gut.
*Exklusiv für Sie recherchierte Hintergrundinformation: Piedone = Plattfuß, Bud-Spencer-Referenz.
Sehr schöner Bericht.
Passt 100%