STEVE HACKETT, 26.04.2019, Liederhalle, Stuttgart

STEVE HACKETT, 26.04.2019, Liederhalle, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Eine der abgeschmacktesten Popmusikmeinungen geht so ähnlich: “Genesis igittigitt, aber als Peter Gabriel noch dabei war sehr geil!” Eine andere durchgenudelte Popmusikmeinung hingegen lautet ungefähr so: “Prog-Rock ist prätentiöses, unsexyes Geknörmel, Virtuosismus um des Virtuosismus willen, mehr Schein als Sein.” Keine Meinung sondern lebendige Tatsache (lebendiger als ich dachte, wie sich zeigen wird) ist der Auftritt von Steve Hackett, der den Sound der progressiven Genesis der 70er entscheidend mitprägte, im sehr gut gefüllten Hegelsaal der Liederhalle.

Meinen cleveren Einstieg über die großen Gitarristen des 70er Progs, namentlich Fripp und Hackett die beharrlich während ihrer Konzerten sitzen, ist gleich mal für die Tonne. Steve Hackett steht, und präsentiert mit seinen anderen fünf Musikern “Every Day” als ersten Song des Abends. Der Klang ist überragend, nahe an der Perfektion. Und der Song aus seinem 79er- Album “Spectral Mornings” stilistisch ziemlich nahe an den Genesis-Songs aus der mir bekannten Peter Gabriel Phase.

STEVE HACKETT, 26.04.2019, Liederhalle, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Die Regel, dass man als akkreditierter Fotograf nur die ersten drei Songs fotografieren darf, dürfte in der ersten Jahren von Napalm Death ein tragisches Event gewesen sein. Hingegen könnte man bei dem Songmonumentalismus von Progbands zwischendurch an die Bar schlendern und sich zeitbeanspruchende Cocktails mixen lassen. Also sehr dankbare Sache, auch heute. Off topic: stimmt es eigentlich, dass diese Regel von Rod Stewart herrührt, dessen Haare nach drei Songs Bühnengeschwitze ihre Form verloren und er deswegen als erster dieses Verhalten von den Fotografen einforderte? So lautet zumindest eine Legende.

Das instrumentale Finale von “Every Day” ist übrigens grandios, gekennzeichnet u.a. durch das was große Gitarristen eint: ein unverwechselbarer Ton und Spielstil. Die Band? Natürlich ausgemachte Könner, v.a. das präzise und extrem fein akzentuierte Drumming von Craig Blundell, dessen Dave Lombardo und Clive Burr Fantum mir nebenbei überaus sympathisch ist. Aber auch Rob Townsend bereichert mit Saxophon, allerlei Flöten und Percussions den Sound der Band.

STEVE HACKETT, 26.04.2019, Liederhalle, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Das Set vor der Pause ist bestimmt durch neue, noch unveröffentlichte Songs, sowie welche aus “Spectral Mornings”, das 2019 sein Vierzigjähriges feiert. Das neue “Under The Eye Of The Sun” fällt v.a. durch seinen mehrstimmigen Gesang auf, der mich tatsächlich ein wenig an Boston oder America erinnert. Insgesamt besticht die erste Hälfte durch ihren Variantenreichtum. Das akustisch, zerbrechliche “The Virgin And The Gypsy” wechselt sich mit sinister klingenden, deutlich härteren Stücken ab. Orientalisch klingende Parts rennen sowieso schon bei mir offenstehende Tore Babylons ein, und die klingen auch manchmal an. Aber Hackett ist das nicht exotisch genug, woanders im Set spielt er auf seiner akustischen Konzertgitarre auch japanisch Fernöstliches. Zum Abschluss des ersten Konzertabschnitts gibt es Ovationen, der musikalischen Qualität des Dargebotenen angemessen. Wenn man mosern mag, kann man die üblichen, oben schon angesprochenen Vorbehalte gegen das Genre an sich bringen, oder das die neuen Stücke doch niemals an die Qualität der Klassiker heranreichen können. Man kann aber auch feststellen, dass hier im Rahmen des Genre die neuen Songs erfreulich spannend klingen, und die Virtuosität nicht die Zugänglichkeit zur Musik versperrt. Aber der großartige Teil kommt ja erst noch…

…denn nach der Pause bekommen wir “Selling England By The Pound”, in Gänze! Hackett wird nachher sagen, dass es sein liebstes Genesis Album ist. Für mich zudem eines der Alben, dass vor langer, langer Zeit eine Progphase meiner Hörgewohnheiten einläutete.

Foto: Michael Haußmann

Im Abschnitt vor der Pause sang der Meister die meisten Songs seiner Soloalben noch selbst. Nun kehrt Nad Sylvan als Leadsänger zurück (er stand nur beim allerersten Song mit auf der Bühne). Interessanter Typ, dessen Biographie ihn sogar mal zu einem Vocaljob auf einer Rednex Platte (ja, genau DIE Rednex) führte. Nun also in Steve Hacketts Band, um v.a. Dingen Peter Gabriels Stimme zu ersetzen. Und meine Güte macht er das gut.

Der Albumopener “Dancing With The Moonlight Knight” wird in einer Perfektion gespielt, dass man nur staunen kann. Manchmal können ja Livedarbietungen, die so nah am Studiooriginal sind langweilig oder steril wirken. Hier ist es einfach nur beeindruckend und kann nicht besser gemacht werden. Gänsehaut, ich sag wie’s ist.

Foto: Michael Haußmann

“I Know What You Like” wird hingegen nicht so originalgetreu gespielt, es gibt sogar ein Saxophon Solo zusätzlich. Unnötig alle Songs dieses Genremeilensteins aufzuzählen. Auffallend ist nach Jahren des Nichtmehrgehörthabens dieses Albums, was für eine beängstigend hohe Qualität es hat. Unter all der Verschachteltheit und technischen Brillanz schimmern reinste Popmelodien. Selbst die ausgiebigen, instrumentalen Passagen sind eigene, kleine Hits inmitten eines Liedes. Die Band spielt diese Stücke mit einem fantastischen Können. Nad Sylvan brilliert mit einem unglaublichen Vermögen auch detaillierte Phrasierungen des Originals wiedergeben zu können. Zudem bringt er auch optisch ein etwas exzentrisches Element in die Show, ohne allerdings auch nur minimal zu versuchen die damalige optische Theatralik eines Peter Gabriels imitieren zu wollen.

Als ausschließlicher Fan von z.B. Punk oder reduzierter Singersongwriterei wird man heute nicht glücklich werden. Da ich beiden Genres eh wenig abgewinnen kann, und bei dem oft positiv gemeinten Adjektiv “schnörkellos” in Sachen Musik eher skeptisch die Augenbraue hochziehe, kann ich mit dieser Musik sehr wohl was anfangen. Gebt mir mehr Schnörkel und Opulenz! Solange es mit gutem Songwriting verbunden ist, empfinde ich es als sensorische Bereicherung. Und immer nur DIY nervt irgendwann auch. Hat ja auch etwas Erhebendes großen Könnern bei ihrer Aufführung zuschauen zu können.

Foto: Michael Haußmann

Auch klar wird mir heute Abend, dass Genesis’ Musik dieser Phase etliche nachfolgende Musikgenres beeinflusst hat. So dürfte Steve Hacketts Gitarrenstil mit seinen dominanten, melodischen Leads und vereinzelten Tappingeinlagen bestimmt auch im Heavy Metal seinen Wiederklang gefunden haben. Scheuklappenfreie Indie-Musiker sind im Übrigen teilweise große Fans der alten Genesis. So spielt der Fitness Forever Keyboarder als Warm Up gerne mal das Klavierintro von “Firth Of Fifth”, während der Bassist sich in einer Genesis Coverband vergnügte. Wenn man Grenzgängertum zwischen Progressive und Indiepop mag, sollte man auch in die wöchtentliche Radioshow “The Curve Ball” reinhören.

“The Cinema Show” ist dann der Höhepunkt des Albums, dessen grandioses Synthie-Finale einfach umwerfend ist, und sehr lange noch nachwirkt. Minutenlange Ovationen folgen, es fehlen eigentlich nur noch “Da Capo” Rufe. Das danach präsentierte “Deja Vu”, ein Track, der es nicht auf das Album geschafft und erst sehr viel später von Hackett vollendet wurde, soll die Albumaufführung abrunden. Ich muss eher feststellen, dass die damaligen Genesis gut daran taten den Song nicht mit auf das Album zu nehmen, da er nicht an die Klasse der anderen Songs heranreicht.

Foto: Michael Haußmann

“Dance On A Volcano” vom ersten Post-Gabriel Genesis-Album ist der gelungene Rausschmeißer vor den Zugaben. Die bieten neben einem mir unbekannten instrumentalem Uptemposong noch “Los Endos” (so glaube ich mich zumindest zu erinnern). Aber eigentlich hätte es das schon gar nicht mehr gebraucht, man ist ja schon genug beglückt worden.

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