LINGUA NADA, LIRR, 04.10.2018, Gaby’s Gruft, Stuttgart
Wer sich Gehör und Gehirn mit Ungehörtem oder Experimentellem durchpusten lassen will, der bewegt sich ja meist in die Neue Schachtel, ins Komma oder manchmal auch in die Rakete. Doch seit Daniela Schübel das Booking für Gaby’s Gruft macht, hat sich hier ein weiterer Hotspot für mutige Konzertgänger aufgetan. Der Gig von Lingua Nada und Lirr rüttelt jedenfalls mächtig an Hörgewohnheiten und ist – von einigen technischen und organisatorischen Problemchen abgesehen – eine Wundertüte voll intensivem Musikerlebnis.
Staubedingt verspätet, haben die Bands dann auch noch mächtig zu tun, das ausladende Equipment für immerhin neun Musiker in den winzigen Club zu quetschen. Und so beginnt der Abend erst gegen halbzehn. (Im Vergleich zu den Sommer-Gigs herrschen übrigens geradezu angenehme Verhältnisse.) Lirr sind eine fünfköpfige Band aus Flensburg und scheren sich um Genre-Grenzen genau so wenig wie ihre Kollegen von Lingua Nada.
Mit drei Gitarren, einem Bass und einer Unzahl von Effektgeräten produzieren sie einen verwegenen Sound, der sich irgendwo zwischen Progrock, Hardcore, Metal und Elektro bewegt. Das Ganze meist hart an der Schmerzgrenze. Screams wechseln sich mit Falsettgesang ab, brettharte Riffs mit sphärischen Synthie-Sounds. Hinter jedem Takt wartet eine Überraschung, eine krasse Wendung. Jeder Versuch, Orientierung in klassischen Songstrukturen zu suchen, ist zum Scheitern verurteilt. Keine Frage: Lirrs Musik ist eine Herausforderung, und zwar eine lustvolle.
Solchermaßen durchgeschüttelt kühlen wir uns vor der Gruft in der lauschigen Idylle der Haußmannstraße ab. Der Umbau gestaltet sich aufwendig, da muss ordentlich Material bewegt werden. Zudem tropft es irgendwo von der Decke. Und zwar mitten auf die Bühne, wo Lingua Nada ihre tischtennisplattengroßen Pedalboards unterbringen wollen. So muss ein Teil der Band vor die Bühne platziert werden. Überhaupt ist das gesamte Setup äußerst skurril, die Band ist eher in der Tiefe des schlauchartigen Raumes platziert.
Leider ist es inzwischen 23 Uhr und es verbleibt nur wenig Zeit für die vier aus Leipzig. Was dann aber in den nächsten fünfzig Minuten auf die Zuschauer einprasselt, ist mit „musikalischer Irrsinn“ ziemlich exakt umrissen. (hier verweise ich auf die perfekte Beschreibung bei den werten Kollegen von Prettyinnoise)
Für das noise-verwöhnte Stuttgarter Publikum tut sich hier eine neue Dimension auf. Einen derartigen Parforce-Ritt durch wahnwitzige Rhythmen und durchgeknallte Genre-Räubereien habe ich noch nie erlebt. Die Intensität des Vortrags ist umwerfend, die Dichte an musikalischen Ideen und überraschenden Wendungen kaum noch zu erfassen. Wer eine Ahnung davon bepommen möchte, dem sei das aktuelle Album „Snuff“ nachdrücklich empfohlen. Ein Gewitter aus Noise, Math und Progressive Rock zwischen Genie und Wahnsinn. Hatten wir bei den letzten Gruft-Gigs noch Zeit uns mit dem sympathisch-kauzigen Interieur zu beschäftigent, brechen diese beiden Bands wie ein Kaventsmann aus Noch-nie-Gehörtem über die staunenden Zuschauer herein. Was für ein fulminanter Gig! (Daniela Schübel hat das Programm bis zum Jahresende übrigens dicht bestückt. Ich bin sicher, dass sich darunter noch mehr solche Perlen verstecken.)