FITNESS FOREVER, 01.01.2017, Magazzini Fermi, Aversa
Die zwingende Logik will es, dass man Silvester und Neujahr nach Neapel fährt. Denn welche Stadt ist garantiert terror-free in diesen Zeiten? Diejenige, die schon aus langer Tradition zum Jahreswechsel mit mehr selbstgebauten, höchstgefährlichen Sprengkörpern (palla di Maradona) hantiert (die Pistolensalven in Camorraquartieren mal ausgeklammert), und dabei zuverlässig beachtliche Bodycounts und Verstümmelungen aller Art generiert. Insofern, für fanatische Gottesstaatler ist hier nix zu holen, was die Einheimischen nicht selbst besser könnten. Zwingend logisch also, dass man hierher kommt, um vor IS-Terror sicher zu sein. Kann aber auch sein, dass man wegen eines Fitness Forever Konzerts hier ist.
Das neue Album „Tonight“ steht very pronto in den Startlöchern, nur ein letztes Remastering noch in Paris bei Chab, der auch am letzten Daft Punk Album Hand anlegen durfte, und dann sollte man sich im April freuen dürfen. Die FFs waren in der Zwischenzeit trotzdem immer fleißig live am spielen, und heute steht in Aversa außerhalb Neapels ein weiterer Warm-Up-Gig an.
Die Hinfahrt bei ungewöhnlicher Kälte mit Tour-Manager-Roadie „Umberto Smile“ (Bassist bei Valderrama 5), Soundtechniker Mario und Bassist Luigi gestaltet sich gewohnt unterhaltsamer als es sich die eigene Fantasie jemals vorstellen könnte. Unglaubliche Geschichten erfolgloser Rückholaktionen gestohlener Bässe in Apulien samt Protagonisten, die sich vor Wut darüber in die Hose kackten, bis hin zu Marios Beobachtungen, dass die Kinder kokswütiger Bekannter von ihm logischerweise extrem gebildet und wohlerzogen sein müssen (Reaktion der Kindern untereinander bei Betrachten ihrer Eltern: „Leute, wir sind hier auf uns alleine gestellt. Wenn wir nicht für uns selber sorgen, sind wir erledigt. Von denen können wir nix erwarten“).
Das „Magazzini Fermi“ (benannte nach dem Physiker Enrico Fermi) ist ein topmoderner, schick eingerichteter Club, mit guter Beleuchtung und hochprofessioneller Soundanlage. Trotz 1. Januar füllt sich der Club gut, so dass das Konzert um 23 Uhr starten kann.
Ob es daran liegt, dass die Band noch etwas lädiert vom Silvesterabend ist (immerhin haben viele von ihnen das only once in a lifetime Konzert der The Goonies von gestern in den Knochen, das um vier Uhr morgens begann), oder die Zuschauer erst noch ihre Neujahrsgeschichten zu Ende erzählen müssen, auf jeden Fall ist noch eine Distanz Musik-Zuschauer bei den bekannten Stücken „Piano Fender Blues“, „Probabilmente“ und „Il Cane Ciuff“ spürbar. Am Sound kann es nicht liegen, der ist exzellent, ebenso die musikalische Performance der Band.
Aber mit den darauf folgenden neuen Stücken „Noi Due“, „Cose Mi Hai Detto“ (erstmals mit Chicca am Sax) und „Dance Boys“ (auf Platte von Ex-Papa Topo Paulita gesungen) ändert sich das so langsam. Wunderbare Stücke, die schon andeuten, dass die neue Platte eine konsequente Weiterentwicklung von „Cosmos“ sein wird. Retropop-Mozart Carlos hat seine unbändige Akkordkreationswut weiter gebändigt, was die Eingängigkeit der Songs erhöht. Und obwohl die Stücke im besten Sinne erwachsener klingen, ist noch genug von der typischen FF-Handschrift erkennbar, die sich immer wieder in wunderbaren, federleichten Harmoniestrukturen und Arrangements wiederfindet. Das Meisterwerk „Gipsylon“ von „Number One Ensemble“ darf als entfernte Sound-Richtschnur genannt werden.
Deutlicher nach vorne als bisher kommt die Rhythmusfraktion. Luigis Bass-Spiel und Andreas herausragendes Schlagzeugspiel sorgen sowohl bei den alten, als auch bei den neueren, deutlich groovigeren Songs für nickende Köpfe und schwingende Hüften. Carlos und Nicoletta unterstützen dies zusätzlich mit punktuell eingesetzten, perkussiven Elementen. Ebenfalls ein prägender Baustein mittlerweile im FF Sound ist der junge Gitarrengott Massimo. Eigentlich spielt er nur Jazz, aber für FF macht er eine Ausnahme. Sein Spiel ist so präzise, fügt dem Gesamtsound immer eine richtige Nuance zu, dass es eigentlich nicht mehr wegzudenken ist.
Die bekannten „Cosmos“ und „Disco Quiz“ sorgen für immer bessere Stimmung. Luigis Ansage, dass sie heute Abend spielen würden, um die Völlerei zu Tisch an den Festtagen zu vergessen, sorgt für verständnisvolle Zustimmung und Lacher. Immerhin hat Carlos als das letzte verbliebene Musikgenie das Legenden-Massaker des vergangenen Jahres überlebt, trotz konstantem Mozzarella-Abusus. Dass wir darüber sehr glücklich sind, zeigt der nächste Block an neuen Songs.
„Igloo“, die schon seit Jahren bekannte Battiato-Reminiszenz und gleichzeitiger Überhit, bringt die ersten Leute schon zum Tanzen und Mitsingen. Neubekanntschaften und FF-Fans der ersten Stunde wie Lorena aus Madrid (Text-Kuratorin für „Botellon“) und Wahlberlinerin Leonie (beim Stuttgart-Konzert damals im Schocken auch dabei gewesen, wie ich erstaunt beim Silvester-Mahl erfahre) dürften da bestimmt zustimmen. Sie dürften ebenso gesehen haben, dass Roberto an den Keyboards ca. das Pensum von drei Musikern spielt. Beeindruckend!
„Baby Love“ ist schon seit den Konzerten im Frühjahr Teil des Repertoires und ein ungewöhnlich straigher Groover, mit einem Überraschungsmittelteil, der ihn dann eben doch wieder zu einem typischen Fitness-Song macht. Deutlich mehr an die alten FF erinnert der Song „Nicoletta“. Ein wunderbarer immaginärer Italo-Soundtrack-Bossa in guter Morricone-Trovajoli-Bacalov Tradition, in dem Nicoletta zeigen darf, dass sie nicht nur wie der wahr gewordene Traum einer Italofrau-Fantasie aussieht, sondern auch zu einer hervorragenden, selbstbewussten Sängerin gereift ist.
Erstmals wird es auch ein neapolitanisch gesungenes Stück von FF geben. „André“, anscheinend dem Friseur von Carlos’ Mutter gewidmet, ist ein instant Ohrwurm mit pumpend-markantem Basslauf. Sofortiger Publikumshit, ebenso wie der Titeltrack „Tonight“. Auf Platte von french genius Vincent von Kidsaredead gesungen, ist es ein sofortiger Ohrwurm, Dance-Granate und Mitsing-Popsong in Personalunion. Das Abschluss-Instrumental „Port Ghalib“ darf dann noch mal als Beispiel herhalten, wie gut FF musikalisch, vor allem live, geworden sind.
Das Publikum ist mittlerweile restlos begeistert, der Prophet zählt im eigenen Lande vielleicht doch noch etwas, und die Zugaben „Anarchica Pugliese“, „Palma de Mallorca“ und „Botellón“ entlassen uns in die eisige Nacht. Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass so Perlen wie „Vacanze A Settembre“, „Lui“, „Mondo Fitness“, „Bacharach“ „Hotel Flamingo“, „D’Estate“ gar nicht im Programm waren, wird einem ganz schwindelig, und man fragt sich wieso ein Donald Trump zur mächtigsten Person der Welt gewählt wurde und nicht Fitness Forever.