KATATONIA, AGENT FRESCO, VOLA, 29.09.2016, LKA, Stuttgart
Ich geb’s zu: Ein schlechtes Gewissen habe ich ja schon. Melde mich kackfrech für ein Metal-Konzert, wohl wissend, dass ich von dem Genre überhaupt keine Ahnung habe. Und gleichzeitig gibt es Spezialisten unter den Gigblog-Kollegen, die mit fundierter Kenntnis von Katatonias fünfundzwanzigjähriger Band-Geschichte den aktuellen Gig fachkundig und faktengespickt rezensieren könnten. Und ich? Ich bin nur wegen der Vorband da. Wegen Agent Fresco, die mich seit meinem ersten eher zufälligen Konzertbesuch packen, wie kaum eine andere Band.
Hohe Erwartungen an Katatonia habe ich trotzdem. Wer sich von einer solch gefeierten Live-Band wie Agent Fresco das Warmup machen lässt, der muss sich ja seiner Sache sehr sicher sein und noch ein paar Pfeile im Köcher haben. Kann deshalb ja nur ein sensationeller Abend werden. So mein Kalkül. Tja, wenn man immer alles so einfach berechnen könnte.
Eine Frage stellt sich gleich zu Beginn: Warum packt man eigentlich drei Bands in einen Abend? Ein musikalisches All-You-Can-Eat-Buffet? Um halbacht, als VOLA das Konzert beginnen, ist es draußen noch hell und drinnen so leer, wie wir das im LKA lange nicht mehr gesehen haben. Ein undankbares Setup für die sympathisch-adretten, aber leider auch etwas uninspirierten Dänen. Was auf Platte recht mächtig daherkommt, wirkt hier etwas substanzlos und nicht immer ganz präzis im Zusammenspiel. Eine halbe Stunde Musik und fünfzehn Minuten Umbaupause später kommen wir langsam in Zeitregionen, zu denen man sich sonst mal langsam auf den Weg zum Konzert macht.
Nun also Agent Fresco, die Band um den charismatischen Sänger Arnór Dan Arnarson. 2014 habe ich sie zum ersten Mal auf dem Iceland Airwaves Festival gesehen habe und seitdem hat mich ihre vertrackte Musik nicht mehr losgelassen. Der letztjährige Gig in Weinheim war mein Konzert des Jahres und Arnór Dans Überraschungs-Auftritt mit Ólafur Arnalds auf dem Stuttgart Festival ein Erlebnis. Schon fast unmöglich, die passenden Genres zu finden. Ist das Progressive Rock? Melodischer Metal mit Spuren von Klassik? Crossover? Jazz? Und was zum Teufel ist eigentlich Math Rock?
Betrachten wir die einzelnen Zutaten: Rhythmus, Tempo und Takt – ungeheuer komplex, kein Takt gleicht dem anderen. Vier viertel? Nie gehört. Rhythmisches Headbangen? Unmöglich. Gesang: Von operngleichem Falsett bis zu infernalischem Kreischen – alles dabei. Klassische Songstrukturen? Selten. Backing Vocals? Braucht kein Mensch. Bass? Treibend und melodiös vom Fender Fünfsaiter, gerne unterstützt mit einem Bass-Synthesizer. Und die Gitarre? Virtuos, schneidend, kreischend, rhythmisch. Oder auch mal ohne. Dann sitzt Gitarrist Þórarinn „Toti“ Guðnason nämlich gerade am Keyboard und streut Pianoläufe ein. Kurzum: dies Musik klingt nach weit mehr als nur vier Mann.
Das eigentlich fesselnde daran: das ist kein virtuoses Muckertum, keine Kopfmusik für verbissene Takte-Rauszähler. Drummer Hrafnkell „Keli“ Örn Guðjónsson ist für mich schlicht der beste seines Handwerks. Mit einem unglaublichen Punch, Varianten- und Ideenreichtum ohne Ende und einer faszinierenden Präzision. Arnór Dan durchlebt jeden Song mit voller Wucht. Das ist unbändige Energie und vor allem: großes Gefühl. Es sind keine schönen Themen, die ihn treiben: Angst, Gewalt, Trauer, Verlust, Wehmut. Er tigert über die Bühne an imaginären Gitterstäben entlang, peitscht mit dem Mikrokabel herum. Am liebsten würde er wohl davonlaufen. Aber letztlich mündet alles immer wieder in die Begeisterung, im Hier und Jetzt und am Leben zu sein.
In die knappen vierzig Minuten packen die vier Isländer die besten Titel ihre beiden Alben „A Long Time Listening“ und „Destrier„. Emotionaler Höhepunkt und umwerfendes Finale: „Eyes of a Cloud Catcher„, Arnors Lied für seinen verstorbenen Vater. Ich schaue mich um: Große Begeisterung, aber auch ungläubiges Staunen über das gerade Gesehene. Ihr Support-Einsatz dürfte sich lohnen. Wenn Agent Fresco an allen 34 Tourstationen derart abliefern, sollte sich ihre Fanbase erheblich vergrößern – und wir dürfen auf eine anständige Headliner-Tour hoffen. Und die bitte wieder mit einem Stopp in Stuttgart!
Inzwischen hat sich die Halle anständig gefüllt, ist aber weit davon entfernt, ausverkauft zu sein. Schwarz ist die vorherrschende Klamotten-Farbe, ansonsten ein bunt gemischtes Publikum: Von klassischen Langhaarmähnen bis zu Frauen im kleinen Schwarzen alles dabei. Katatonia-Fanshirts in Mengen, aber auch Wacken- und andere Metal-Hemden in großer Menge. Auch die Gig-Blog-Kollegen Björn und Claus sind da. „Was war denn das?“ meint letzterer zu Agent Fresco und findet ihre Musik „ganz schön sperrig“. Recht hat er. Mit Informationen zu Katatonia möchte er – der Genre-Oberauskenner und Katatonia-Fan – mich auf den nun anstehenden Auftritt vorbereiten. Und mein schlechtes Gewissen meldet sich wieder: eigentlich hätte er (wie schon 2012) diesen Bericht übernehmen müssen. Wie kann ich, der Katatonia gerade mal vom neuesten Album „The Fall of Hearts“ oberflächlich kennt und völlig unter dem Eindruck der Vorband steht, dieser Aufgabe gerecht werden? Au weia.
Schon mit den ersten Takten wird mir klar. Das ist skandinavischer Metal, wie man ihn sich als Außenstehender vorstellt. Fette und tiefe Gitarrenriffs, wallende Klamotten, fliegende Mähnen und ein beeindruckender Frontmann, der ganz offensichtlich große Verehrung genießt. Ein mächtig rollendes Schlagzeug, rhythmisch übrigens auch durchaus komplex, und zweistimmige Backing Vocals. Das kommt schon ganz schön breit daher. Sänger Jonas Renkse macht seinen Job eher unprätentiös, verschwindet meist zur Gänze hinter seinem Langhaar-Vorhang und gönnt sich nur selten große Gesten. Musikalisch ist das ganze ist übrigens durchaus melodiös.
Und natürlich finden sich nun alle Metal-Insignien, die ich erwartet hatte. Da wird geheadbangt, dass es eine Freude ist, da werden Pommesgabeln gereckt und lautstark mitgesungen. Die Fans kommen ganz offensichtlich auf ihre Kosten, mir ist der Vortrag nach der musikalischen Achterbahnfahrt von Agent Fresco aber auf die Dauer zu gleichförmig…
Sorry, liebe Katatonia-Fans, ihr habt es schon gemerkt: hieraus wird keine angemessene Besprechung dieses Gigs. Lassen wir es also sein. Das nächste Mal schicken wir wieder jemanden, der weiß, wovon er schreibt. Und bis dahin sehen wir uns vielleicht mal wieder auf einem Gig von Agent Fresco.