HEILUNG, EIVØR, LILI REFRAIN, 14.12.2022, Liederhalle, Stuttgart
Fesselnde, skandinavische Kälte legt sich über Stuttgart. Und mit der langsam untergehenden Sonne entschwindet auch das letzte Gefühl von Wärme auf der Haut. Doch bringt uns der Norden heute nicht nur bitteren Frost – sondern auch Heilung.
Das erste und vorerst auch letzte Mal bin ich mit Heilung auf dem Summer Breeze 2018 in Berührung gekommen. Damals war ich nicht so recht in der Stimmung für das, was da kommen sollte. Vor allem, wenn direkt davor Marduk den Weltuntergang intoniert haben. Doch heute bin ich bereit. Bereit für vergessene Klänge und fesselnde Rhythmen. Betörende Düfte und tanzende Körper.
Mir war nicht bewusst, wie ansteckend und infizierend Heilung in den vergangenen vier Jahren die Welt bereist haben. Doch der Hegel-Saal ist brechend voll, samt Tribüne. Die Vorgaben für den Fotograben waren heute auch eher verspielt und wage, dennoch mussten sie der Band bestätigt werden. Keine Bilder während dem Eröffnungsritual, erst, wenn die Trommeln erklingen – 15 Minuten. Das sind zumindest 14 Minuten mehr als uns Marilyn Manson damals zugestand.
Völlig losgelöst von Zeit und Raum betritt als erstes Lili Refrain die Bühne.
Das zierliche Wesen aus Rom ist Mittelpunkt dieses Soloprojekts. Lili Refrain nimmt uns mit ihren sich wiederholenden Drumloops tief hinab in eine wippende Trance, untermalt mit folklastigen Klängen, die auch immer wieder in Blues und psychedelischen Rock überlappen. Eine wirklich schwer zu beschreibende Mischung, die immer wieder in die ein oder andere Richtung ausbricht.
Sie füllt diese Klangwelten bei Songs wie Ahi Tapu mit Poesie über die dunklen Seiten unseres menschlichen Seins, doch kreiert mit ihrer warmen Stimme auch eine hypnotisierende Mischung aus Unheimlichem und viel Schönheit. Jeder Song beginnt gleich, mit einem gleichbleibend eingespielten Rhythmus und wächst weiter im Verlauf und verliert dabei nie die organische, von handgemachte Kunst. Mami Wata und auch der Rest ihres Sets ist definitiv nichts zum nebenbei hören. Es braucht das Bewusstsein und die Hingabe, für die vielen Facetten, um alles, was sie schafft, in sich aufzusaugen. Ein wirklich starker und besonderer Beginn.
Es wird nochmal einen Tick komplizierter, die Musik Eivørs im nachfolgenden Auftritt zu beschreiben. Auch hier beginnt mit dem ersten Ton, der ersten gesungenen Silbe eine Reise durch verschiedenste Genres.
Eivør Pálsdóttir stammt von den Faröer Inseln und bewegt sich mal solo, mal mit Band über die verschiedensten Bühnen dieser Welt und verbreitet in ihrer Muttersprache alte Folklore und düstere Balladen. Wer zuvor noch nichts von ihr gehört hat, könnte dennoch schon mit ihrer Kunst in Berührung geraten sein durch die Serie „The Last Kingdom“, zu welcher sie bereits mehrere Songs beisteuerte, wie z.B. The Last Kingdom. In eine gänzlich andere Richtung geht schon der zweite Song Salt. Hier finden sich Elemente des Trip-Hop, melancholische Klanglandschaften gepaart mit den warmen Cello-Harmonien ihres Mitmusikers. Immer wieder greift sie auch zu unterschiedlichen Percussion-Elementen und verstärkt mit treibenden Rhythmen die dichte Atmosphäre ihrer Werke.
Am beeindruckendsten für mich ist dabei der letzte Song Trøllabundin. Hier trifft das typisch nordische „joiking“ auf Kehlkopfgesang gepaart mit elektronischen Beats, Sounds und schaffen eine hypnotisierende Sogwirkung. Auch Eivør ist auch auf keinen Fall Musik fürs Auto oder in unruhiger Umgebung. Es braucht den Fokus für die Details und die Bereitschaft, sich darin komplett zu verlieren. Gerne hätte ich diesen Auftritt im Sitzen genossen, in kleinerem Raum ohne Ablenkungen.
HEILUNG.
Dunkelheit. Stille. Die Bühne, dekoriert mit Bäumen und Ästen, Knochen und Trommeln, wird geweiht. Alles wird von Weihrauch umhüllt und eine Gruppe, gekleidet in altnordischen Gewändern betritt die Bühne und bildet einen Kreis.
Die Opening Ceremony beginnt:
Remember that we all are brothers
of ALL people
of Beasts and Trees
and Stone and Wind.
We all descended from the One Great Being that was always there before people lived and named it before the first seed sprouted.
Perkussionist Christoph Juul durchbricht die Stille mit einem Knochenhorn und der treibende Beat startet das Ritual, startet In Majdan. Es bräuchte mehrere Abende, um alle Details auf der Bühne zu entdecken. Alles scheint einen Zweck zu haben und der Klangerzeugung zu dienen. „Sänger“ Kai Uwe Fausts Kehlkopfgesang ist der treibende Part der Songs, während Sängerin Maria Franz immer wieder die harten, rohen Klänge mit sanften Gesangseinlagen durchbricht und einen in diese ursprüngliche, unbekannte Welt entführt.
Heilung ist weder Konzert noch Theater, das wäre schlichte Untertreibung. Es gibt immer wieder choreografierte Abläufe, wie beim darauffolgenden Alfadhirhaiti, doch wirkt alles natürlich und organisch. Der beinahe unveränderte, durchgängige Beat bringt alle Körper in ein homogenes Wanken, gepaart mit geheimnisvollen Geräuschen, Klängen und Düften.
Viele Bilder an diesem Abend werden noch lange nachwirken, so eindrucksvoll verbinden Heilung Musik, Theatralik und rituelle Aspekte. Martialisch wirkt es gar, wenn unzählige Frauen und Männer mit halbnackten, schmutzigen Leibern die Bühne betreten und mit Schildern und Speeren den Rhythmus der Trommeln aufnehmen. Wild tanzend wechseln sich weitere Perkussionisten an den blutrot beschienenen Knochentrommeln ab und halten den Puls der Zeremonie am Pochen. Krigsgaldr. Maria Franz zeigt während ihrer warmen, verzehrenden Gesangseinlagen keinerlei Emotionen und schafft in Verbindung mit der Verblendung ihrer Augen eine seltsam mystische, geisterhafte Präsenz auf der Bühne.
Schon während dieser Darbietung mache ich mir Gedanken darüber, wie ich in diesem Bericht alles unterbringen kann, was ich gesehen und gefühlt habe. Es ist schlichtweg einfach viel zu viel. Es in Worte zu fassen, würde immer noch weit weg sein von dieser Erfahrung. Heilung schaffen es, eine fremde Welt in einer anderen Zeit zum Leben zu erwecken und einen in diese hineinzuziehen. Sänger Faust dreht sich wie im Wahn, behangen von unzähligen Glocken, im Kreis, von einer Seite zur anderen und streut gefühlt frei Schnauze guttural gesprochene Zeilen in die dichte Atmosphäre ein. Immer weitere Klangebenen wie indische Ritualglöckchen und Fiedeln fließen in den Gesamtsound ein und setzen spirituelle Akzente. Drei weitere Sängerinnen tanzen exzentrisch um Maria herum und unterstützen ihre sanften Klänge, sodass mal der weibliche, mal der männliche Part die Stücke tragen.
Es herrscht immer dynamische Leichtigkeit auf der Bühne, die nie gekünstelt wirkt. Eine weitere Tänzerin wird von Faust im Kreise der wieder aufgelaufenen Speerträger bedeutungsschwer „geopfert“, um im weiteren Verlauf von den hypnotisch gesprochenen Zeilen Marias wieder aufzustehen.
Heilung spenden Energie. Erzeugen eine innere Ruhe und Verbundenheit und lassen diese beim letzten Akt Hammrer Hippyer frei. Alle Menschen auf der Bühne tanzen wild durch die Gegend und auch das Publikum scheint die aufgebaute Energie fließen zu lassen und zergeht in Extase.
Es folgt die Closing Ceremony. Das Knochenhorn ertönt ein letztes Mal und Heilung verschwindet in der Dunkelheit.