PUNK IN STUTTGART FESTIVAL, 01.10.2017, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
Nicht nur in London, auch in Stuttgart ist der Punk im Museum angekommen. Die Ausstellung „Wie der Punk nach Stuttgart kam“ ist – so hört man allerorten – eine großartige, aufwändig recherchierte und mit einfachen Mitteln toll präsentierte Sammlung von Originaldokumenten und Punk-Devotionalien. Die entsprechenden Besprechungen des Crowdfundingprojekts, der Ausstellung und ihrer Eröffnung (hier, hier, hier und hier) sind jedenfalls voll des Lobes. Wer, wie wir, allerdings nur zum Festival anrutscht, kann davon leider nur sehr wenig sehen, da der größte Teil für die Konzerte weggeräumt werden musste. (Sei’s drum, schauen wir im Laufe der Woche halt nochmal vorbei, bevor das Ganze dann am 8. Oktober mit einer Versteigerung und einem Akustik-Gig von Normahl endet)
Drei Tage geht das Festival im Württembergischen Kunstverein, grob thematisch sortiert. Unter dem Motto „Elektronisch“ startet es am Freitag bereits direkt nach Feierabend. Und es wird tatsächlich das erwartete Familientreffen. Alt- und Neupunks (fast alle ohne das damals übliche Outfit) mischen sich mit den üblichen Konzertgängern und kulturbeflissenen Museumsbesuchern. Die Dada-Krachmacher Rocket Freudental eröffnen das Festival mit einem ihrer typisch chaotischen Sets, das Schlagzeug aus Rollkoffer und Farbeimern. Ausgelassene Stimmung gleich zum Beginn, dem Aufruf zum „Stuhlkreis“ kommt keiner nach. Das Flavio-von-Human-Abfall-Nebenprojekt Die Säulen des Kosmos hat bereits 2014 die Sleaford Mods mit brachialer Elektronik und Sprechgesang in Agitprop-Manier beeindruckt. Und auch heute liefern sie ein großartiges Set. Der mit Spannung erwartete Konzert der Kult-Band HEUTE muss leider entfallen, da G.A.W. krank geworden ist. Stattdessen gibt es einen Auftritt der halben Band in Form von Der Mußikant (Ein Video gibt’s hier).
Den Samstag (Thementag „Pogo“) lassen wir aus und finden uns am Sonntagnachmittag wieder im WKV. Heute alles aus der Kategorie „Elektronisch“. Mit Spannung erwartet: einer der raren Auftritte der Familie Hesselbach. Auch heute: Szene-Vollversammlung, einige sonntäglich herausgeputzt, Altersdurchschnitt wieder eher hoch. Die Gigs der How High The Moon Revival Band, von erika 51 und der Reutlinger New-Wave-Band die alten rauschen an uns vorbei. Auch dem Auftritt der Beat-Band Die Sache bringen wir nicht die gebotenen Aufmerksamkeit entgegen. Zu viele Hände müssen geschüttelt, zu viele Anekdoten mit alten Freunden ausgetauscht werden.
Bei den schrägen Vögeln von Stragula aus Reutlingen sind wir – und der größte Teil des Publikums – dann endlich bei der Sache. Ihr Mischung aus eigenen LoFi-Trash-Tracks aus den Achtzigern und schaurig schönen Punk-Coverversionen im Casio-Style präsentieren sie wie gewohnt an einem Tisch sitzend. Mit „Kill the Poor“ in einer Schunkelversion steigt die Stimmung, das Publikum singt mit.
Mit der größten Spannung erwartet: Der Auftritt der Tübinger Band-Legende Familie Hesselbach. Dass bei einer Band, die sich 1981 gegründet hat, lauter Silberrücken auf der Bühne stehen würden, war zu erwarten. Mit welchem Einsatz und welcher Perfektion diese Band zu Werke geht, das überrascht dann doch. Schließlich können ihre Gigs seit 1990 an einer Hand abgezählt werden. Schon mit ihrem Opener „Warnung vor dem Hunde“ haben sie den Laden im Griff. Heftig und tanzbar ist das. Danach geht’s quer durch die Genres. Von klassischem Pogo-Punk („VDS Fachtagung“, „OiOiOi“) über New Wave (mit schrägen Saxophon- und Trompetenfanfaren) bis hin zu Rap mit Discobeat ist alles dabei.
Sänger Gottfried, gerade noch im Duett mit Keyboarder Handke Hesselbach, ist schon wenig später zu Tanzeinlagen im Publikum. Keine Frage: Die Band steht voll im Saft und sieht nach mächtig Live-Erfahrung aus. Dass sie seit ihrem letzten Gig 2013 außer zwei Proben für den heutigen Auftritt, gar nicht mehr zusammengespielt haben, mag man kaum glauben. Mit ihrem Beitrag markieren sie jedenfalls den unumstrittenen Höhepunkt des Festivals. Umso betrüblicher, dass Gottfried später im Gespräch verrät, dass dies wahrscheinlich ihr letzter Gig war. (Hoffen wir, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen ist…)
Die mir bis dato unbekannten Krime aus Tübingen übernehmen den undankbaren Slot zwischen zwei Headlinern, halten aber mit einem knackig-kompakten Set, einer exaltierten Sängerin und derbem Punk die Stimmung und Tanzlaune hoch, bevor dann Eight Rounds Rapid die Bühne entern.
Diese kommen aus dem englischen Southend-On-Sea und haben mit der Stuttgarter Punk-Szene nichts zu tun. Dennoch bilden sie mit ihrem Retro-Punkrock einen wohlgesetzten Abschluss für das Festival. Sie verweisen nicht nur musikalisch auf die Ursprünge des Punks, auch optisch ist ihr Auftritt in weißen Hemden, Krawatte und dunklen Anzügen „dead british“, wenn auch überhaupt nicht „punkig“. Bereits bei „I Like It“ ist die Tanzfläche wieder gut gefüllt. Sänger David Alexander mit seinem stoischen Vortragsstil, seiner schneidenden Stimme und komplett ungerührter Miene ist zwar etwas unheimlich, die gesamte Band-Performance aber erstklassig. Ein würdiger Abschluss für die dreitägige Familienfeier im Württembergischen Kunstverein.
Setlist Familie Hesselbach
Warnung vor dem Hunde
Wo bist du zu finden?
Gesichter
PIL
Blut im Stuhl
Sansellium
White Rap
VDS-Fachtagung
OiOiOi
Jeden Morgen Jeden Tag
Erinnerung
Blonde Frau
Rimini
falsch.
Familie Hesselbach unbestrittener Höhepunkt? Für Leute, die Punk vor 35 Jahren als Volkshochschulkurs belegt haben oder die der Familie Hesselbach verwandt oder verschwägert sind vielleicht? Klangen für mich ziemlich seelenlos, aufgesetzt und zwanghaft konstruiert. Eher eine Artrock- oder Realschullehrerband i.R. als Punk. Aber vermutlich bin ich da zu jung für. Krime und die Engländer zum Schluss dafür mega. Tolle Veranstaltung insgesamt.
Was Punkrock sein darf und was nicht bestimmt hier immer noch Carola. Ein seelenloser, aufgesetzter und zwanghaft konstruierter Kommentar einer Person, deren Verständnis von Punkrock längst schon ein maschendraht-behütetes Exponat ist.