Christian Rottler & Band, Joe Bauer, Nicole Heidrich. Vorpremiere des Hörspiels „Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr“, 23.08.2016, Cafe Weiß, Stuttgart
Ich habe Christian Rottler vor vielen Jahren zufällig im Merlin entdeckt. Damals war er „Vorgruppe“ einer nicht so tollen deutschsprachigen Band. Seine Gitarre war sehr dezent im Einsatz, aber mehr als Worte hat es für mich nicht gebraucht, sein Umgang mit Sprache und der lässig-schnoddrige Vortrag haben mich in ihren Bann gezogen. Sein Lied „Feuer“ steht ganz oben auf meiner Hitliste. Ich kann nicht sagen warum, aber kein Song hat mich jemals derart berührt und er tut es nach all den Jahren noch immer.
Heute stellt Rottler im Café Weiß sein Hörspiel „Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr“ vor. Seine Band Lenin Riefenstahl ist ebenfalls dabei, sie eröffnet den Abend. Zu meiner großen Freude ist das zweite Lied „Feuer“. Die sparsame Instrumentierung der Studioaufnahme gefällt mir zwar sehr viel besser, aber schön, es mal wieder live zu hören.
Rottler will nicht selber lesen und so hat er Joe Bauer, bekannt als Kolumnist der Stuttgarter Nachrichten und Gastgeber des Flaneursalons, und Nicole Heidrich, Journalistin, Sprecherin und Moderatorin beim SWR, verpflichtet. Letztere hat „den Rottler“ auch im Hörspiel gesprochen.
Joe Bauer beginnt mit der Vorstellung von Annemarie und Harry vom Café Weiß, sagt ein paar Worte über diesen einst geschützten Raum der Liberalität und Toleranz und liest zunächst einen eigenen Text. Er erzählt von Huren, Luden, Homosexuellen, die damals noch strafrechtlich verfolgt wurden und den monatlich stattfindenden Proust-Lesungen sowie einem Brief, adressiert an Herrn Marcel Proust, Geißstraße 16 (Adresse des Café Weiß). Dieser Brief wurde laut Bauers Ausführungen von Heinz Weiß auf Drängen von Wendelin Niedlich, ehemals Besitzer des für mich schönsten Stuttgarter Buchladens, aus dem Müll gerettet. Dieser sitzt hinter mir und wird freudig begrüßt und vom unter roten Lampen sitzenden Publikum eifrig beklatscht.
Nach dieser Einführung spielt die Band noch „Chlor, Jod und Tenside“, Rottler bezeichnet dieses Stück als „Emokeule“. Rottler erwähnt den Brief eines gewissen Herrn Pontifax, der ihn vermeintlich um einen Beitrag zu einem Sammelband zum Thema Proust bittet, nachdem er auf Youtube das Musikvideo von „Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr“ von Christian Rottler&Galakomplex entdeckt hat. Dann geht das Wort an Nicole Heidrich. Würde man solche Moderatorinnen nicht im Radio verstecken, würde ich mir vielleicht wieder einen Fernseher anschaffen. Ungekünstelt liest sie aus der Perspektive Rottlers vom Scheitern am Proustschen Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, das er sich voller Enthusiasmus als Lektüre für eine Urlaubsreise vorgenommen hat, ihn aber maßlos langweilt. Und sie erzählt vom Gefühl der Niederlage als Leser, den Gewissensbissen, die Qual bis man endlich so weit ist, zu sagen: es ist einfach nicht meins, scheiß drauf! Aber so richtig lässt ihn der Proust dann doch nicht los.
Nach diesem Teil der Lesung erklärt Christian Rottler, er habe noch nie eine so harte Band gehabt – ehrlich gesagt hatte ich mir sie noch um einiges härter vorgestellt. Nun folgt unweigerlich der Song „Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr“.
Es geht wieder weiter mit Nicole Heidrich. Sie liest von Rottlers Vertonung der Erkenntnis von Martin Walser, dass es schön ist, wenn man beim Ficken zu zweit sei. Das musste er einfach popkulturell ausschlachten. Beim Lesen anspruchsvoller Literatur denke man wohl doch auch meist nur an die Erlangung von Beischlaf oder so ähnlich. Im Anschluss wird der Song „Schön, wenn man beim Ficken zu zweit ist“ selbstverständlich dargeboten und Rottler entschuldigt sich, der sei schon postpubertär, aber 17 Jahre her, würde er heute nicht mehr so machen.
Es folgt eine Pause, dann beginnt die Band mit dem wunderbaren „Wasser hat ein Gedächtnis und schlägt mir gegen die Schädelwand“ den für mich amüsantesten Teil des Abends. Nicole Heidrich und Joe Bauer lesen den E-Mail-Wechsel zwischen Christian Rottler und Albert Gier, Herausgeber des oben erwähnten Proust-Sammelbands. Der Austausch ist so unglaublich, dass man ihn nicht hätte erfinden können. Rottler und Gier beißen sich höflich aneinander fest, die ungläubigen Lacher aus dem Publikum werden mit jedem Antwortschreiben heftiger. Egal, dass Rottler weder zu Proust gefunden hat, noch ein Text von ihm in den Sammelband aufgenommen wurde: um diesen Austausch mit Gier ist er zu beneiden!
Nun kündigt Joe Bauer an, dass der Zylinder für die Spenden rumgehen wird, welcher allergisch auf Hartgeld reagiert, anschließend stellt Christian Rottler Joe Bauer noch zwei Fragen. Erstens, was ihm zu Polizisten im Café Weiß einfällt und zweitens, wie es so war damals im Café Weiß. Bauer erzählt von der zwangsläufigen Symbiose der Drogendealer und Polizisten an diesem Ort, der als einer der einzigen zu so später Stunde noch geöffnet war und an dem daher Nachtgestalten aus allen Gesellschaftsschichten anzutreffen waren. Diskretion war selbstverständlich.
Wenn im Weiß Proust gelesen wurde, waren alle aufmerksam. Wahre Urbanität sei das gewesen im Gegensatz zum heute als urban geltenden Marienplatz, der nichts weiter als ein paar Kneipen nebeneinander vorzuweisen hat, was mit Urbanität schließlich nichts zu tun habe. Er erzählt von den Wirten Vater und Sohn Weiß, die beide Schneidermeister waren und vom blauen Auge nach einer nächtlichen Begegnung mit Heinz Weiß auf dem Herrenklo. Bauer weiß viel über diesen Ort, aber er bricht ab und die Band stimmt ein weiteres Lied an. Das Stück „Löcher in Socken und Wänden“, im Refrain heißt es „Einer geht noch rein“ – das ist keinesfalls eine Version des beliebten Bierzeltschlagers, sondern laut Christian Rottler das befindlichkeitsfixierteste Stück, das er je geschrieben hat.
Wenn ich mir das Video anschaue und kaum was erkennen kann, dann frage ich mich, ob euer Fotograf auf der gleichen Veranstaltung war. ;-)
https://www.youtube.com/embed/hhjZgKlz-W4
äh, ich werte das mal als Lob und bedanke mich!
*knicksundab*