Rückblick auf den CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Open-Air, Übersee

CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

„Übersee“. So der Album-Titel der Chiemgauer Blaskapelle LaBrassBanda, der uns anno 2010 bei der Urlaubsplanung auf das oberbayrische Dorf mit dem lustigen Namen brachte. Eine Ferienwohnung auf einem Bauernhof war schnell gefunden. Und als dann ausgerechnet vor dem Hof unserer Gastgeber einer der Riesen-Campingplätze für den Chiemsee Reggae Summer aufgebaut wurde, war es nur noch ein kleiner Schritt: Warum nicht das Urlaubsprogramm aus Baden, Bergwandern und Radeln mit einem netten Reggae-Festival krönen? Zumal das ganze recht günstig zu haben war, mit drei Kindern im festivalfähigen, aber noch nicht kostenpflichtigen Alter. Programm-Highlights damals: Fat Freddy’s Drop, The Jolly Boys und Doreen Shaffer. Und es hat uns so gut gefallen, dass wir die nächsten zwei Jahre gleich wieder gekommen sind. Reggae-Legenden wie Jimmy Cliff, Toots & the Maytals und Lee „Scratch“ Perry haben wir gesehen, aber auch viele Entdeckungen gemacht haben wie z.B. Irie Révoltés, die Ohrbooten oder The Skints.

CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Der Reiz daran: mit dem Festival exakt in der Mitte des zweiwöchigen Urlaubs konnten wir jedesmal mit ansehen, wie sich das beschauliche Dörflein mit dem nahe gelegenen Chiemsee-Strandbad auf den Ansturm von 20.000 Teilzeit-Rastas und Party Animals vorbereitet, den ganzen Wahnsinn dann in aller Gemütsruhe durchsteht und drei Tage nach dem Massenansturm wieder so aussieht, als sei nichts geschehen. Wacken in Oberbayern quasi. Mit Ganja und Weißbier.

CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

2015 wünschten sich dann unsere Kinder wieder einen Urlaub am Chiemsee. Natürlich mit Festival-Besuch. Inzwischen hatte sich das Festival allerdings erheblich verändert. Mit der Einführung des „Chiemsee Rocks“ hatte der Veranstalter schon vor ein paar Jahren eine Zweitnutzung der Festival-Infrastruktur in den Tagen vor dem „Chiemsee Reggae Summer“ eingeführt, 2014 wurden diese beiden Events dann zum „Chiemsee Summer“ zusammengelegt und auf fünf Tage verlängert. Mit mehr als 35.000 Zuschauern und erheblichen organisatorischen Problemen hat die Erst-Ausgabe 2014 dann allerdings Widerstände in der Gemeinde hervorgerufen und für 2015 zu einer Reduzierung auf 30.000 Zuschauern geführt.

Die schmerzliche Änderung für uns: die Verteilung der interessanten Acts auf nunmehr fünf Tage zwang uns zum Kauf der Fünf-Tages-Tickets. Mit allen Kids im kostenpflichtigen Alter rissen die fünf Frühbucher-Tickets also mal kurz ein Loch von 600 Euro in die Urlaubskasse. Nun denn, dafür zeichnete sich ab, dass das chronisch verregnete Festival dieses Jahr wenigstens trocken bleiben sollte.

CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Auch räumlich hat das Festival mächtig zugelegt: zusätzlich zur Haupt- und Zeltbühne sind zwei weitere Zelte hinzugekommen. Eines davon als reines Club-Zelt für den Disco-Betrieb, das andere ebenfalls mit gut Dreivierteln Elektro-Acts, meist als One-Man-DJ-Sets. Insofern für uns beide entbehrlich.

Mittwoch, 19.08.2015

Was uns gleich am ersten Festival-Tag auffällt: Das Publikum ist im Schnitt noch jünger geworden. Volltrunkene Oberschüler und die permanente Atmosphäre einer Klassenfahrt ohne Aufsichtsperson werden uns durch die nächsten fünf Tage begleiten. Ältere Besuchergruppen treten gerne mal in einheitlichen T-Shirts mit dämlichen Sprüchen auf. Junggesellen-Abschied in XXL sozusagen. Das Programm ist weit gefächert, kann grob in die Sparten Reggae, Rock und Elektro gegliedert werden, und die allermeisten Künstler wurden offensichtlich unter dem Aspekt größtmöglicher Partytauglichkeit gewählt.

DANKO JONES, CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Wir starten das Festival an der Hauptbühne mit Danko Jones und seinem soliden Rock. Und wir freuen uns über einem sympathischen Auftritt ohne jeglichen Firlefanz. Die darauf folgenden The Gaslight Anthem wirken vor der Party-Crowd seltsam deplatziert. Die Irish-Punker Dropkick Murphys schauen wir uns aus sicherer Distanz aus dem neu eingerichteten Biergarten an. (Apropos: das Festival könnte, wenn es schon in Rufweite einiger der besten Brauereien Deutschlands liegt, mit heimischen Produkten soviel mehr Lokalkolorit haben. Stattdessen muss man sich mit dem Industriebräu des Hauptsponsors begnügen) Highlight des ersten Tages ist definitiv der Auftritt der nigerianischen Sängerin Nneka, die mit ihrem Soul/HipHop/Reggae und einer formidablen Band auf der akustisch schwierigen Zeltbühne eine extrem dichte und geradezu berührende Atmosphäre schafft. Angesichts des tobenden Festival-Wahnsinns rundum und dem permanten „Umtz Umtz“ aus dem benachbarten Elektro-Zelt ein kleines Wunder.

NNEKA, CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Donnerstag, 20.08.2015

Am Donnerstag ist der Headliner Cro natürlich der Programm-Höhepunkt für unsere Tochter. Vorher schauen wir uns noch Gogol Bordello an. Eugene Hutz schafft es schon am frühen Abend, mit einer ansteckenden Mischung aus Balkan-Melodien, rauher Seeräuber-Romantik und kontrolliertem Chaos viel Spaß zu verbreiten. Ausgerechnet zu Cros Auftritt beginnt es dann, in Strömen zu regnen und wir lassen nach einigen Titeln und einer Würdigung der wirklich beeindruckenden Bühneninstallation unser Töchterlein im Regen stehen und suchen Schutz im Zelt bei Shantel & the Bukovina Orkestar. Und dieser überrascht mit einem äußerst druckvollen Set, das offensichtlich auch die anwesenden Musiker von Gogol Bordello beeindruckt. Verglichen mit früheren Gigs (wir haben ihn vor Jahren bereits in den Wagenhallen gesehen) ist dies eine Steigerung um 100%, und seine neue Ausrichtung zum Swing ist eine gute Ergänzung zur ewigen Balkan-Disko.

GOGOL BORDELLO, CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Freitag, 21.08.2015

Mit der Antilopen Gang starten wir in den Freitag. Der – nun ja – etwas eckige Auftritt lässt mich rätseln: ist das tatsächlich der neue, politisch angehauchte HipHop oder ist das doch nur etwas dilettantisch? Egal, wir haben eine größere Lücke im Programm, nutzen die Zeit für ein Mittagsschläfchen auf dem Bauernhof und beschließen, zu Feine Sahne Fischfilet zurück zu sein. Dummerweise erwischen wir noch einen Teil des Auftritts von K.I.Z, die ja aktuell sehr gehypt werden. Ich finde sie mit ihren plump-sexistischen Dumpftexten weiterhin ärgerlich und hätte gerne auf diesen Auftritt verzichtet.

FEINE SAHNE FISCHFILET, CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Feine Sahne Fischfilet sind musikalisch vielfältiger als erwartet und machen einen Heidenspaß. Erwartungsgemäß nutzen sie jede Gelegenheit, zum Widerstand gegen rechte Gewalt und Rassismus aufzurufen, lesen aber auch gleichzeitig den Party-Antifaschisten die Leviten. Mit ein bisschen „Alerta Antifascista“ im Festival-Moshpit sei es halt nicht getan.

ANTILOPEN GANG, CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Der darauf folgende Auftritt des Farin Urlaub Racing Teams ist eine ziemliche Enttäuschung. Unmotiviert und schlicht langweilig spult der an sich ganz sympathische Ärzte-Frontmann ein Standard-Programm ab, das sogar den darauf folgenden Jan Delay zu der ein oder anderen süffisanten Bemerkung verleitet.

FARIN URLAUB RACING TEAM, CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Der Gig von Jan Delay & Disko No.1 soll sich dann als der absolute Höhepunkt des Festivals herausstellen. Mit vergleichsweise bescheidener Bühnenausstattung aber unfassbarer Energie und einer hervorragenden Band reißt der Hamburger tatsächlich alle mit. Obwohl er – so tragen mir Jan-Delay-Fans zu – mit diesem Programm schon seit Jahren tourt, bringt er es mit einer Frische über die Bühne, dass die bisherigen Gigs des Festivals dagegen deutlich abfallen. Und er erntet Riesenapplaus für sein Statement, wie schade es sei, dass dies kein Reggae-Festival mehr ist.

Samstag, 22.08.2015

CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

Den Samstag verbringen wir, wie ein großer Teil des Festival-Publikums, im Strandbad (das übrigens von den Einheimischen während des Festivals gemieden wird), um uns für den vierten Festivaltag fit zu machen. Wir starten im Zelt mit den Augustines und bekommen gleich mal einen äußerst soliden Indie-Rock-Gig geboten. Die Band um Billy McCarthy strotzt vor Spielfreude, leidet anfangs zwar etwas unter technischen Problemen, hinterlässt aber letztlich ein schwer begeistertes Publikum, das den Chor aus „Cruel City“ noch singt, als schon für Chuck Ragan & the Camaraderie aufgebaut wird.

Auf der Hauptbühne sehen wir später noch die Parov Stelar Band und danach den Headliner Deichkind. Und was soll ich sagen? Spätestens nach drei Liedern habe ich mich an der unglaublich aufwändigen Bühnenshow sattgesehen. So witzig und intelligent die Texte der Hamburger ja sind, in diesem gigantischen Spektakel gehen sie glatt unter. Choreographie, Farbgebung und Formwelten bieten eine effektvolle, aber auch absurde Mischung aus Pet Shop Boys und Reichsparteitag. Auf der Crowd wird in einem riesigen Fass gesurft – aber letztlich reißt der ganze Aufwand nicht wirklich mit. Zu steril ist die Inszenierung. Wir versuchen, den Tag zu retten, begeben uns ins Zelt (das von Samy Deluxe noch mächtig aufgeheizt ist) und hoffen auf die Berliner Ohrbooten, die bisher noch nie enttäuscht haben. Und tatsächlich: mit einem ebenso minimalen arrangierten wie mitreißenden Auftritt bringen sie das komplett gefüllte Zelt zum Toben und produzieren einen leicht ekliges Schweiß-Kondensat-Getröpfel vom Zeltdach. Eine traditionelle Chiemsee-Band, die (wie die Irie Révoltés) dieses Jahr leider nur im Zelt spielen.

Sonntag, 23.08.2015

Am Sonntag macht sich bei uns eine gewisse Festival-Müdigkeit breiten. Den einzig interessanten Früh-Gig, die italienischen Ska-Punks Talco lassen wir sausen und so feiern wir den Festival-Abschluss mit dem großen „alten“ Mann des deutschen Reggae, Gentleman. Sein Auftritt kommt zuerst nicht so recht in die Gänge, steigert sich dann aber doch noch ordentlich. Der kurz vorher aufgetretene Sean Paul gesellt sich auch noch auf die Bühne, und so endet das Festival mit einem soliden Reggae-Gig in entspannter Atmosphäre.

Unser Fazit: Ein Sommer am Chiemsee ist und bleibt einer der schönsten Urlaube, der Chiemsee Summer ist für uns aber entbehrlich geworden. Leider wurde hier ein Sparten-Festival mit ganz eigener Atmosphäre zu einem beliebigen Mainstream-Event für Party People umgestaltet. Ob dies dem Chiemsee Summer einen dauerhaften Bestand sichert? Man wird sehen. Mit 27.000 Zuschauern war er dieses Jahr jedenfalls nicht ausverkauft und für 2016 ist „im Sinne der Besucher“ eine Reduzierung auf vier Tage angekündigt. Die Tickets für vier Tage kosten dann allerdings genau so viel wie die diesjährigen Fünftagestickets.

CHIEMSEE SUMMER 2015, 19.-23.08.2015, Übersee

Foto: Holger Vogt

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