MARIENPLATZFEST, 02.-05.07.2015, Marienplatz, Stuttgart
Der reinste Sack Flöhe, diese Gig-Blogger. Versuch mal, einen geordneten Bericht über unser liebstes Stadtteil-Fest zu machen, wenn keiner so recht weiß, ob und wann er vor Ort ist. Dieses Jahr im Angebot: Konzertberichte ohne Bilder und Bilder ohne Konzertbericht. Sei’s drum. Die wichtigste Frage – Musikprogramm hin oder her – lautet eh: ist das Marienplatzfest in seiner vierten Auflage immer noch so cool wie in den letzten Jahren oder verliert es durch immer größeren Besucherandrang langsam seinen Charme? – Holger
DAN PATLANSKY, Donnerstag, 19:00 Uhr
Gleich der Eröffnungs-Act wirft Vorurteile über den Haufen. Eilt doch dem Marienplatzfest – genau wie Reiner Bockas Musik-Café Galao – der Ruf voraus, bevorzugt Singer-Songwriter und gefälligen Elektropop zu präsentieren. Das Trio um den Südafrikaner Dan Patlansky macht aber derben Blues-Rock mit ganz dicker Hose. Und das am frühen Abend bei knapp 37° auf dem sonnendurchglühten Marienplatz. Virtuoses Gitarren-Spiel, schwitzige Blues-Atmo. Da linsen ZZ Top um die Ecke. Die Überraschung zum Auftakt ist gelungen. – Holger
SAY YES DOG, Donnerstag, 21:00 Uhr
Say Yes Dog sind mir ebenso unbekannt wie der Rest des Lineups, aber schon nach einem Titel ist mir – und auch der inzwischen stattlichen Zuschauer-Schar – klar: diese drei Jungs aus Berlin passen wirklich perfekt zum Marienplatz und dem warmen Sommerabend. Federnder Elektrop-Pop, straighter Beat, schöne Basslines. Da kommt trotz der Hitze Bewegung ins Publikum. Erstaunlich übrigens, dass ein klassischer Höfner-Bass zum Einsatz kommt. Gibt dem Ganzen eine etwas nostalgische Optik. – Holger
SEA CHANGE, Freitag, 17:00 Uhr
Sea Change ist Ellen Sunde aus Norwegen. Damit sie nicht alleine in der brüllenden Hitze um 17 Uhr den Marienplatzfest Freitag eröffnen muss, hat sie sich Unterstützung in Form eines Schlagzeugers mitgebracht. Trotz eigentlich hoher Motivation meinerseits und wirklich schönem Synth-Pop von Sea Change halte ich es nur 2 Lieder lang aus und muss in den Schatten flüchten. Aber wie man Reiner kennt spielt, die Norwegerin ja sicher bald im Galao. Hoffentlich dann im tiefsten Winter. – Thomas
THE RHYTHM JUNKS, Freitag, 19:00 Uhr
Beim Durchhören meiner obligatorischen Warmup-Playlist zum Marienplatzfest sind mir diese drei Belgier sofort aufgefallen. Eine markante, elektronisch verzerrte Mundharmonika ist das dominierende Instrument bei den Rhythm Junks. Steven de Bruyn entlockt diesem Instrument, das man doch zuerst mal mit bräsiger Lagerfeuer-Mucke verbindet, eine unglaubliche Bandbreite an Sounds. Mal feiner Indie-Pop, dann jazzig, bluesig oder orientalisch, das Ganze in verschiedenen Tonlagen geloopt. Und dazu singt er auch noch, mit rauchiger Blues-Stimme oder im Falsett. Für mich der musikalische Höhepunkt der ersten beiden Festival-Tage. Eine Entdeckung.
DISASTER IN THE UNIVERSE, Freitag, 21:00 Uhr
Wie es bei guten Festivals (und ja das Marienplatzfest ist für mich dann doch mehr Festival als Stadtfest) so ist, gibt es mindestens eine überraschende Neuentdeckung. Für mich ist das dieses Jahr Disaster In The Universe. Die Jungs aus Norwegen geben auf der Bühne sofort Vollgas und mit ihrer Musik liegen sie irgendwo zwischen Kakkmaddafakka und Retro Stefson. Mit ganz viel Spielfreude und Durchhaltevermögen spielen sie sich schnell in die Herzen und auch in die Beine der Stuttgarter. – Thomas
YES I’M VERY TIRED NOW, Samstag, 15:00 Uhr
LE VERY, Samstag, 17:00 Uhr
Mittlerweile habe ich mich an die Temperaturen zumindest ein bisschen gewöhnt. Dem Rest der Leute scheint es ähnlich zu gehen. Es ist doch schon relativ voll für 17 Uhr und 35°C. Trotzdem bilden sich Menschentrauben an den Rasensprengern und im Schatten der Bühne.
Umso erstaunlicher was die Tänzerinnen von Le Very auf der Bühne abliefern: Dauertanzperformance. Und weil des Style es so will muss auch die Jacke anbleiben. Sonst macht das Trio schnörkellosen Elektro Pop und ist für mich ein bisschen zu glatt. Und der Schatten zu verlockend. Aber immerhin halte ich heute schon 5 Lieder durch. – Thomas
MALKY, Samstag, 19:00 Uhr
MONOLINK, Samstag, 21:00 Uhr
NICOLE UND PETER, Sonntag, 13:00 Uhr
MARIE LOUISE, Sonntag, 15:00 Uhr
TIME FOR T, Sonntag, 17:00 Uhr
KISS & DRIVE, Sonntag, 19:00 Uhr
Die Sonne brennt mir unbarmherzig aufs gottseidank noch volle Haupthaar, als Kiss & Drive aka Elisabetta Spada die Bühne betritt. Wirkt ein wenig bieder, aber wird sich im Laufe der nächsten Dreiviertelstunde als ziemlich lustig und sympathisch entpuppen. Schon der erste ihrer Pop-Folk-Songs geht vielen Anwesenden mächtig in die Beine. Und so tanzen Papas mit dem Kleinen auf dem Arm neben fröhlich lachenden Hippie-Mädchen und einem irgendwie lustig hängengebliebenen Hare Krishna (bin da kein Experte, aber Glatze mit Zöpfchen und weißer gewandähnlicher Klamotte?). Wunderschöne Stimmung. Echt jetzt, wenn ich jetzt auch noch tanzen würde, würde ich wahrscheinlich einfach zerfließen und den Gulli runterlaufen. Die sind da eindeutig härter drauf als ich.
Zwischen ihren zuckersüßen, fröhlichen Songs schäkert die in Brüssel lebende Italienerin gekonnt mit dem Publikum. Ein junger Mann mit einem Wal auf dem Shirt wird spontan auf die Bühne geholt. Der macht das dann auch ganz nett und sympathisch und tänzelt zu einer Textstelle mit Wal lächelnd über die Bühne. Gott, bin ich froh, dass ich kein Wal-Shirt anhabe. Nicht dass ich eines zuhause hätte, aber trotzdem. Elisabetta Spada lacht viel und versucht sich gar nicht mal so unbegabt in deutsch. „Mensch, ist das der weibliche Svavar Knútur?“, höre ich Huiss vor sich hinmurmeln. Ja, so ein bisschen was ist dran an dem Vergleich. Ein bisschen was. Hatte bislang noch nichts gehört von Kiss & Drive, aber gefällt mir richtig gut. – Carsten
AND THE GOLDEN CHOIR, Sonntag, 21:00 Uhr
Mit And The Golden Choir bekommt das viertägige Festival einen feierlichen Abschluss. Tobias Siebert tritt ebenfalls allein auf, allerdings bietet er mit einem kleinen Trick einen teilweise sogar opulenten Breitwand-Sound. Auf einer stimmungsvoll eingerichteten Bühne steht er im dicken schwarzen Wollpulli (bei immer noch knapp 35° wohlgemerkt), mit Leselämpchen, Rotweinglas, diversen Instrumenten und: einem Plattenspieler. Und auf diesem Gerät ist seine Band, von der konsequent in der Wir-Form spricht. In Wirklichkeit hat er alle Instrumente selbst eingespielt. Die Tracks bringt er auf Schallplatten mit, die durch den dauernden Live-Einsatz schon ordentlich knacksen und dem Ganzen eine analoge Zerbrechlichkeit geben. Dazu spielt er Gitarre, Hackbrett oder auch mal Harmonium und singt in der Kopfstimme melancholische Lieder mit wunderschönen Refrains.
Und hier zeigt sich mal wieder die ganze Klasse dieses Festivals. Es kehrt – zumindest im vorderen Drittel des Platzes – eine ruhige, aufmerksame Stimmung ein, die dem Künstler und seiner Musik inmitten des großstädtischen Rummels einen wunderschönen Rahmen bietet. Wahrlich nicht selbstverständlich für ein Stadtteilfest. Und als Siebert dann das Publikum bittet, sich zu setzen, werden die letzten Minuten seines Vortrags zu einem fast magischen Moment.
Um eingangs gestellt Frage, ob das Marienplatzfest denn immer noch was taugt, zu beantworten: in seiner vierten Auflage war es sogar noch besser als zuvor. Und wenn es weiterhin mit so viel Liebe, Qualität, anspruchsvollem Booking und originellen Ideen organisiert wird, ist da für 2016 auch keine Trendwende zu erkennen.– Holger
Impressionen
And The Golden Choir
Malky
Marie Louise
Kiss & Drive
Yes I’m Very Tired Now
Time For T
Nicole und Peter
Monolink