GAYE SU AKYOL, 31.05.2025, inter:Komm! Open-Air-Festival, Echazhafen, Reutlingen

Für aufmerksame Storm-Chaser eine Binse: Reutlingen bei gewitterträchtigen Wetterlagen ist immer eine Reise wert. Dumm nur, wenn gerade an so einem Tag gleichzeitig die so bemerkenswert fantastische wie fantastisch bemerkenswerte Ausnahmekünstlerin Gaye Su Akyol open air auftreten soll. Resultat? Als ich verspätet eintreffe, wegen überfluteter B27, ruht das Festival gerade. Warten bis das Gewitter sich verzieht und man zumindest nicht von Blitzen erschlagen wird.

Drei Bands spielen heute Abend. Kolonel Djafaar und ihr gewitterbedingt verkürztes Set habe ich schon mal verpasst. Nuju aus Italien bekomme ich mit. Geboten wird feierwütiger Folk, wie ich ihn tatsächlich in Italien schon öfters hörte, als man mich in Sommerurlauben eher widerwillig zu Sachen wie Ariano Folkfestival oder Carpino Folk Festival mitschleifte. Meine Sache ist es nicht, aber Nuju kann man nicht absprechen, das Publikum im Handumdrehen zu einer Feiermeute animiert zu haben. Ein bisschen Seeräuber-Lieder, ein bisschen Gaukler und Wegelagerer-Romantik samt Dolche jonglieren, gepaart mit tatsächlich ins Ohr gehenden Melodien. Sehr gekonnt und mit viel Beifall verabschiedet. Der Raußschmeisser ist dann „Bella Ciao“, der alte Partisanenklopper.

Eines vorweg zu Gaye Su Akyol. Als nicht der türkischen Sprache mächtige Person, ist mir klar, dass ich nicht mal ansatzweise der Musik der Byzantinerin Istanbulerin gerecht werden kann. Das wird mir während des Konzerts noch öfters bewusst werden, wenn der türkische Teil des Publikums lauthals Songs mitsingen wird.

Zu fast schon Massive Attack artigen Sounds und Beats tritt Gaye Su Akyol auf die Bühne. Und ihr Look ist so umwerfend glamourös, wie man es von Pressefotos und Videos erwarten durfte. Und gleich eine weitere Vorabwarnung: Ich werde die meisten Songs des Sets kennen, aber da ich mir nicht mal englischsprachige Titel merken kann, ist es absolut ausgeschlossen, dass ich auch nur einen türkischen Songtitel nennen kann. Altersverdummung, kulturelle Ignoranz, westliche Überheblichkeit, eine unheilige Allianz.

Was aber schon nach den ersten Takten klar ist: Die Musik ist grandios. Gleichzeitig verschleppte und dennoch pulsierende Rhythmen bilden die Basis. Quasi das Cumbia-Prinzip, nur ganz anders. Der zweite Mitmusiker neben dem Schlagzeuger spielt meist Gitarre, bedient aber auch Synthies und Gesampeltes. Darüber die Stimme Gaye Su Akyols. Für mich erforderte die erste Berührung mit ihrer Musik eine kurze Eingewöhnungsphase. Rock- oder Popsongs, die sich so middle-east flavour zulegen und orientalische Skalen benutzen, gibt es nicht wenige. Aber der Startpunkt ist westliche Rockmusik. Hier ist es umgekehrt. Auf Basis anatolischer Musik nähert man sich den Ohren vertrauterer Genres wie Psychedelic, Rock, Indie, Surf, Electronica usw. an.

GSA trifft mit ihrem Gesang, trotz aller Melodieschnörkel, die der Musik aus ihrer Heimatregion so eigen ist, ein gutes Maß an Ausdrucksstärke, aber ohne over the top zu sein. Ab und an stellt sie sich hinter ein zweites, kleineres Drum-Kit, und trommelt die Songs zu tanzbaren Höhepunkten. Riesenfan werde ich auch instant von ihren Moves. Auch hier nix Übertriebenes, aber es sieht einfach so lässig und cool aus, wow.

Musikalisch bleibt das Konzert die ganze Dauer über so spannend wie mitreißend. Und das, obwohl sie nicht wenig Zeit zwischen den Songs nutzt, um so charmante wie gute Messages in Englisch und Türkisch rüberzubringen. Ob es ein Aufruf ist, sich autoritären Versuchungen entgegenzustellen, oder Widmungen an LGBTQ-people, unterdrückten Kindern oder Menschen in Kriegssituationen. Aufschlussreiche und kluge Sachen, wie man z.B. auch in diesem Interview lesen kann. Kein Wunder, dass Fatih Akin eine Musikdoku über sie dreht, mit dem Namen „Anatolischer Drache“.

„What do you think about going to vacation, but directly into space?“
kündigt sie einen Song an. Das Bild mit dem Raumflug passt auch gar nicht so verkehrt zur Musik. Wie sie es schafft, mir sparsamen Mitteln, und trotz sehr dominanten Melodieelementen anatolischer Musik, so einen futuristischen, völlig eigenständigen Sound zu kreieren ist schon fabelhaft. Das Publikum ist begeistert, obwohl es in der ersten Hälfte des Sets wieder regnete. Die Deutschen tanzen, die mit türkischer Migrationsgeschichte tanzen und singen. Und alle gehen sie glücklich nach Hause. Beeindruckt, eine große Künstlerin gesehen zu haben.
