MIDGE URE, 26.03.2025, Theaterhaus, Stuttgart

Der Typ wäre fast mal Sex Pistols-Sänger geworden. Malcolm McLaren hatte ihn ganz oben auf der Liste für seine gecastete Boy-Punkband. Midge Ure hatte aber Besseres zu tun, war auch schon ein paar Jahre im Geschäft (Jahrgang 1953). Eines führte dann aber zum anderen: Mit Pistols-Bassist (und Songwriter) Glen Matlock und Rusty Egan entstand 1978 ein Powerpop-Album als Rich Kids, im selben Jahr startete er dann auch Visage mit Steve Strange. Es folgte ein kurzes Intermezzo bei den irischen Hardrockern Thin Lizzy und schon ein Jahr später ersetzte Midge Ure John Foxx bei den bis dahin eher punkrockigen Ultravox – wo er dann über Jahre auch die stilprägende Gestalt wurde.
Eine beachtliche Vita also, die der gut gealterte Schotte ins ausverkaufte Theaterhaus mitbringt. Und reichlich Stoff für eine etwas schamlos „Catalogue – The Hits Tour“ benannte Veranstaltung, der per se die unvermeidlichen SWR1-Nostalgiedämonen weckt. Das Ganze auch noch im bestuhlten großen Saal – ich bin vorab doch ein wenig skeptisch.

Mit Konzertbeginn aber gleich milde gestimmt, denn Sound und Setup sind ganz nach meinem Gusto: Die große Bühne ist fast leer, die kompetenten Begleitmusiker bleiben meist im Hintergrund und der fit wirkende und erkennbar motivierte Chef hat viel Platz für sich und seine erfreulich expressive Gitarre (teils auch mal Keyboards). Der Sound ist kristallklar und betont Ures bis heute eindrucksvolle Stimme – auch wenn er bei den ganz hohen Tönen ein wenig trickst. Das mit den Hits aus allen Schaffensphasen ist nicht gelogen und wird von Anfang an konsequent durchgezogen. Als Opener das knackige „Marching Men“ von den eher kultigen Rich Kids, im folgenden aber auch gleich sein typischer, ausgesprochen hymnischer 80er-Sound mit „Reap The Wild Wind“ (Ultravox) und seinem 1985er Solohit „If I Was“.
Dann folgt aber auch weniger Massentaugliches wie Fremdsongs aus der Feder von Tom Rush und Peter Green. Fern von jedweden Allüren gibt sich Midge Ure als gutgelaunter Plauderer mit charmantem schottischem Akzent, erklärt auch die Herkunft des einen oder anderen Songs. Das von Anfang an begeisterte Publikum (ganz überwiegend Ü50) folgt auch beim für meinen Geschmack etwas zähen Akustik-Mittelteil – ein dramaturgischer Klassiker: Das tiefe Luftholen vor dem finalen Hitfeuerwerk, das bei Zeitgenossen wie The Cure auch schon mal zwei lange Stunden dauern kann (bin heute noch traumatisiert).

Und das Finale hat es dann in sich: Das epische „Vienna“ eröffnet die „SWR1-Mitklatschhölle“ (O-Ton Gigblog-Fotograf), aber was will man bei Sitzkonzerten auch groß tun? „One Small Day“ und „Dancing With Tears In My Eyes“ sind pathetisch-euphorischer Pop mit eingebauter Mitsing-Garantie. Dass – siehe das Motto des Abends – aber auch weiterhin eher Unerwartetes geboten wird, freut mich dann doch sehr.
Bei Visages „Fade To Grey“ hält es niemand mehr in den Sitzen – das ist aber auch ein Song für die Ewigkeit. Vor der Bühne drängeln sich jetzt die Zuschauer, alle andern stehen in den Rängen. Für kurze Verwirrung sorgt das hartrockende Thin Lizzy-Cover „The Boys Are Back In Town“, obwohl das natürlich auch rundum SWR1-kompatibel ist und erfreulich originalgetreu wiedergegeben wird. Überhaupt scheint der 71-Jährige bis heute viel Spaß am Rock zu haben, seine Stromgitarre klingt das ganze Konzert durch knackig-krachig, was der Nostalgieveranstaltung ordentlich Bodenhaftung verleiht.

Als Zugabe dann noch das mächtige „The Voice“ – grandioser Kitsch, gut gealtert und vielleicht der Song, für den Midge Ure der Rockgeschichte für alle Ewigkeit verbunden bleibt. Verdammt, jetzt hat mich das gefürchtete Nostalgievirus doch auch noch gepackt, aber wahrscheinlich ist das ohnehin die Zukunft des Rock’n’Roll. An Stuttgarter Litfaßsäulen kleben derzeit Konzertplakate von Neil Young, Tom Jones und Judas Priest nebeneinander. Willkommen in 2025.