TOCOTRONIC, CAVA, 20.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart

„Golden Years“ heißt das neue Album von Tocotronic, kürzlich erschienen am Valentinstag. Sind Tocotronic im mittlerweile 32. Jahr ihres Bestehens in ihren goldenen Jahren angelangt? Im goldenen Herbst an ihrem zweiten Tourtag Ende März in Stuttgart jedenfalls nicht ganz.
Es ist das erste Mal für Tocotronic im Wizemann, lange Zeit eine alteingesessene LKA-Band, vor einigen Jahren ein kurzes Intermezzo im Theaterhaus, nun ist es das Wizemann. Mit Blick auf die Kapazitäten der Locations und in Erinnerung an das damals alarmierende Statement der Band, als sie aufgrund schwacher Vorverkäufe eine Tour verschoben hatten, vielleicht sogar eine präventive Vorsichtsmaßnahme im Booking? Diese Erfahrung hallt sicher nach. Erschreckend, wie es um den Zustand der Livebranche in der Postcoronazeit bestellt ist, wenn es auch Bands in der Größenordnung Tocotronics so hart trifft. Das Konzert heute jedenfalls ist schon einige Wochen ausverkauft und das Wizemann fasst weniger Publikum als LKA oder Theaterhaus. Es wird familiärer.

Trotz aller wohlvertrauten Gewohnheit eines Tocotronic-Konzerts, mit einem üblich herzlichen Dirk von Lowtzow in Plauderlaune, ist es ein besonderer Abend mit gewaltiger Veränderung. Nach über 20 Jahren ist Rick McPhail bei der ursprünglich zu dritt agierenden Band heute nicht dabei. Neben Bassist und Podcastkönig (Reflektor) Jan Müller und Schlagzeuger und Vogelcomiczeichner Arne Zank komplettiert der aus Maine stammende Gitarrist die Band – und verkündete vor einigen Monaten, dass er aus persönlichen Gründen für unbestimmte Zeit pausiert. Beim aktuellen Album wirkte er noch mit. Auf Wikipedia wird er bereits vorschnell als „ehemaliges Bandmitglied“ gelistet, das stimmt so nicht ganz. Heute wird es sehr deutlich, dass er fehlt. Allein die Tatsache, dass er seit 2004 festes Bandmitglied ist: Tocotronic existiert doppelt so lang mit Rick McPhail als ohne ihn. Auch musikalisch schier unersetzbar, setzte er deutliche Akzente im dann viel breiter angelegten Sound der Band nach dem 90er-Geschrammel. Und zuletzt: Neben J Mascis ist Rick McPhail vermutlich der lässigste (Anti)-Rockstar überhaupt und die verkörperte Coolness in Person. Ein Segen nicht nur für Tocotronic selbst, sondern auch für das zuweilen stockig steife und sehr deutsche Musikbusiness.

Dass Tocotronic wie zu Beginn als Trio fortfahren würden, davon war kaum auszugehen. Das ließe sich allein vom Sound nur schwer zu dritt umsetzen. So sehr das Fehlen von Rick McPhail schmerzt, vertritt ihn Felix Gebhard, ein Routinier und Profi, heute würdig und makellos. Gebhard ist kein Unbekannter, wenn man ihn nicht von seinem früheren Soloprojekt Home of the Lame kennt, dann als Gitarrist von Muff Potter oder als langjähriger Livemusiker bei Einstürzende Neubauten.
Mit Prokofiews „Tanz der Ritter“ beginnt die Show standardgemäß, auch im weiteren Verlauf bleibt sich die Band über weite Strecken treu. Zwischen sieben Songs der neuen Platte befinden sich altbekannte Klassiker, für die das Publikum gekommen ist, das ist deutlich spürbar. „Let there be rock“, „Drüben auf dem Hügel“, „Hi Freaks“, „This boy is Tocotronic“ – allesamt lange gesetzt im Liveset. Doch schon bei vergangenen Touren sorgte die Band immer wieder für wunderschöne fanfreundliche Ausreißer, wenn Songs wie „Ich habe Stimmen gehört“, „17“ oder „Letztes Jahr im Sommer“ wieder hervorgeholt wurden. Oder auch „Das Geschenk“, heute als Finale vor den Zugaben zu hören und glücklicherweise wieder im Set. Der stoisch, beinah postrockig vertrackte Instrumentalpart bricht nach vier Minuten mit der schönen Erinnerung aus, was für ein fantastisches Album „K.O.O.K.“ ist.

Größte Überraschung jedoch das von Dirk von Lowtzow als „Lovesong“ angekündigte „Gegen den Strich“. Eine selten live dargebotene Perle des ikonischen Albums „Pure Vernunft darf niemals siegen“ aus der Berlin-Trilogie, einer weiteren Bastion ihres Werks. Auch dies leider live stark unterrepräsentiert.
Und unsere Leidenschaft ist ihnen rätselhaft.
Es sind Zeilen wie diese, die so sinnbildlich für die eindrucksvolle parolenhafte Tocotronic-Poesie stehen: Der „Protestsong“ „Sie wollen uns erzählen“ mit Felix Gebhard an der Mundharmonika beinah dylanesque, passend zur aktuellen Dylan-Filmbiografie „Like a complete unknown“. Evergreen in rot „Aber hier leben, nein danke“ der wichtigste Song der Stunde. Es sind die stärksten Momente des Abends.

Deutlich dazugewonnen hat das Konzert durch den Toursupport Cava. Das Garage-Punk-Duo aus Berlin wirbelt von Beginn an von null auf hundert auf, mit Songs, die allesamt knapp an der 2 Minuten-Marke vorbeischrammen. Schnelle Akkordfolgen, Wechselgesang und herrlich dreckiger fuzzy Girarrensound macht das halbstündige Set zu einem kurzweiligen, intensiven Powertrip, gleichzeitig der Titel ihres aktuellen Albums (erschienen bei Buback). Eine halbe Stunde eindreschen auf Instrumente, Klasse und Patriarchat.
Eine Band, die man besser in irgendeinem DIY-Punkkeller sehen sollte. In der großen sterilen Wizemann-Halle fehlt da ein bisschen der Vibe. Vor zwei Jahren hatten Cava in Stuttgart vor 40 Leuten im Tearoom gespielt wie sie erzählen, jenes Konzert sogleich die Geburtsstunde eines äußerst sympathischen Stuttgarter Veranstaltungskollektivs mit dem schon damals richtigen, frühzeitigen Riecher. Und heute Tocotronic-Support vor über tausend Menschen.

Cava ist neben Ilgen-Nur (2018) der aufregendste Tocotronic-Toursupport seit langem. Peppi Ahrens und Mela Schulz, lediglich an Drums und Gitarre, mit einer Energie für vier und einem Sound, der unweigerlich Erinnerungen ans Tocotronic-Frühwerk hervorruft, der heute an einigen Stellen bei „Ich verachte euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“, „Digital ist besser“ oder „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ kurz wiederauferlebt wird. Letzterer kann exemplarisch für eben diesen Gefühlsausdruck aller stehen, die sich lost in einer solchen Welt fühlen, heute wie in den frühen 90ern. Zauberhaft.
Cava mit auf Tour zu nehmen vermutlich Tocotronics bestes Statement, die Bühne bewusst für zwei junge Frauen und deren Musik freizumachen. Auch, weil es eine sensationelle Band ist, die gehört werden sollte.

Zwischen Rittertanz und den großen weißen Vögeln vergehen 110 Minuten, am Ende heulen die Gitarren im Noisegewitter vor und nach „Explosionen“ und „Freiburg“. „Alles wie gehabt, nichts hat sich verändert“ – so wohlvertraut sind die Tocotronic-Konzerte heute mit diesen feststehenden, bekannten Ritualen – und so schrien es Die Nerven vor über 10 Jahren in die Welt, Tocotronic mimte damals diese erstaunliche Stuttgarter Band in deren Musikvideo „Angst“ im Jugendclub.
Tocotronic-Konzerte bleiben ein zumeist nostalgisches Youth Revival mit jenen vertrauten Fixsternen, ohne dass die Band Relevanz oder den Bezug zu jüngeren Generationen verliert, was die Zusammenarbeit mit Cava oder eben Die Nerven zeigt. Nach 30 Jahren ist man zwar lang schon rausgewachsen aus den Trainingsjacken, die Konzerte für viele ein Throwback in die Jugend. Die Vertrautheit dieser Musik und die eigene Bedeutung zu spüren, sicher und behaglich wie die Plüschtiere vor, auf und neben den Amps. Sie sind immer da. Für immer jung, im besten Sinne.