MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
Foto: X-tof Hoyer

Es ist ein Abend ganz im Zeichen von Eurovision. Marcus und Martinus Gunnarsen aus Elverum, der Stadt Norwegens, nach der sich Phil Elverum (Mount Eerie, The Microphones) benannt hat, der so ziemlich das komplette Gegenteil der verkörperten Good Vibes only-Boys ist. Und auch sonst ist Norwegen ja eher für Black Metal bekannt. Letztes Jahr nahmen die jungen Zwillinge mit ihrem Song „Unforgettable“ für Schweden beim Eurovision Song Contest teil. Ein Höhepunkt ihrer jungen, dennoch schon lang andauernden Karriere. Heute treten sie in der vollen Im Wizemann-Halle auf.

Zwillinge in der Pop Musik: Jedward Twins, Aaron und Bryce Dessner, Marcus & Martinus. Am ehesten vergleichbar sind Marcus & Martinus vermutlich mit „Die Lochis“ (jetzt HE/RO), nur international weit erfolgreicher als ihr hessisches „Pendant“, auch ohne vorige Youtube-Karriere. Ähnlich früh gestartet sind sie aber. Die beiden sind mit ihren 23 Jahren schon alte Hasen im Showgeschäft, haben bereits ihr zehnjähriges Bühnenjubiläum hinter sich, mit 13 (!) erschien ihr Debütalbum. 2024 sind sie im europäischen Pop-Himmel angelangt und belegen mit „Unforgettable“ zwar ‚nur‘ Platz 9 beim ESC, vom Ergebnis selbst sind sie enttäuscht, aus Deutschland gab es Höchstpunktzahl 12 Punkte, aus der Heimat Norwegen nur drei.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Doch der ESC-Effekt wirkt, sie haben sich beim Contest in die Herzen des Publikums gespielt. Um Eurovision zu verstehen, muss man auch auf die Nebengeräusche achten, das Herz von Eurovision ist der verbindende Gedanke, united by music. Artists, die gemeinsam feiern und sich gegenseitig supporten. ESC-Fans lieben das. Zuträglich für die eigene Karriere ist es umso mehr, es spült nicht nur neues eigenes Publikum rein, liebgewonnene Acts werden auch bei zukünftigen ESCs gern mal eingeladen – und wenn es nur Gastauftritte oder das Expertensofa ist.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Vergangenen Samstag fand der schwedische Vorentscheid Melodifestivalen statt, Marcus & Martinus nahmen zweimal daran teil, mit großem Erfolg. In Schweden wird Eurovision ohnehin wesentlich leidenschaftlicher zelebriert als hierzulande, kein Wunder hat Schweden mit die meisten ESC-Siege eingefahren. Schweden ist Pop. Dagegen die schnarchigen, bisweilen cringen deutschen Vorentscheide, die Stefan Raab aktuell wieder versucht aufzuwärmen. ESC und Deutschland, das ist eh so eine Sache. Wirklich mitgefiebert wird nicht, über die teils desaströsen Ergebnisse der letzten Jahre spottet man eher selbstironisch.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Wie es richtig geht zeigen Marcus & Martinus: Die aktuelle Europatour ist beinah komplett ausverkauft, auch das Konzert in Stuttgart ist sehr gut besucht. Wie zu erwarten sind es durchweg junge Mädchen, die den beiden so nah wie möglich sein wollen. Ein Frauenanteil von schätzungsweise 95%, der Altersdurchschnitt deutlich unter 18. Zielgruppe weiblich, jung, ekstatisch, bewaffnet mit Schildern und Smartphones (wichtigstes Utensil der Konzertgegenwart) und „gesegnet“ mit schrillen Stimmen. Eine Selfiehölle. Im hinteren Bereich tummeln sich die Väter, eine schöne Randerscheinung von Popkonzerten, die vermutlich fast die einzigen männlichen Zuschauer ausmachen. Wie der ESC ist es auch heute eine Art Familien-Event.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Mit „Like it like it“ beginnt das Konzert begleitet mit vorhersehbar großem Gekreische schwungvoll, durchweg dancy happy Sound als Kernelement vor allem ihrer früheren Musik. Zur dreiköpfigen Liveband, erhöht in der Bühnenmitte platziert, gesellen sich zu einzelnen Songs noch zwei Tänzerinnen, die mit Marcus & Martinus performen. Die eher einfach gehaltenen Pop-Arrangements werden von Gitarrist, Drummer und Keyboarder im einheitlichen M&M-Dress gut umgesetzt, allein die Tatsache, dass sie mit einer Band auftreten ist anerkennenswert und nicht unbedingt erwartbar.

Beide Bühnenseiten und auch ganze Strophen sind klar unter den Brüdern aufgeteilt: Während der eine singt, ist der andere meist im Hintergrund, gemeinsam werden nur die Refrains und die Tanzchoreographien performt. Da Martinus mittlerweile auffällig tätowiert ist, kann man die beiden mittlerweile gut auseinanderhalten. Die leichten Bad Boy-Vibes werden von ihrer ausnahmslos charmanten Ausstrahlung überdeckt.

Ihr Set besteht überwiegend aus Songs des aktuellen Albums „Unforgettable“, gleichnamig wie besagter ESC-Titel. Vom Debüt „Hei“ ist neben dem größten Hit „Elektrisk“, den sie kurz vor Ende performen und den die Fans selbstverständlich fehlerfrei in Originalsprache mitsingen können, „Plystre på deg“ heute der einzige Titel in norwegischer Sprache. Das Musikvideo zu „Elektrisk“ zugleich eine wunderbare Zeitreise mit mittlerweile knapp 450 Mio. (!) Youtubeviews. Einige Zuschauerinnen dürften zu diesem Zeitpunkt noch im Kleinkindalter gewesen sein. Leicht funny/albern, (Frühwerk der Lochis lässt grüßen) aber come on, es waren Kinder!

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Die Leidenschaft und Hingabe ihrer Fans, ganz ohne Spott, ist herzzerreißend und beeindruckend. Für viele von ihnen sicher eins der ersten Konzerte überhaupt, es sind Kinder und junge Teenager, ihre selbstgebastelten Schilder tragen Botschaften mit Songwünschen, Liebesbekundungen oder schlichter Ausdruck persönlicher Bewunderung. Sie wollen sich mitteilen und gesehen werden, nah sein. Und sie werden gesehen. Marcus & Martinus bedanken sich, gehen auf einzelne ein, es sind die schönen Seiten von Fandom in einer kalten Industrie: Während dem Song „When all the lights go out“ werden Knicklichtstäbe im ganzen Raum geschwenkt, eine kleine selbstorganisierte Publikumschoreo. Simpel, aber effektiv und in seiner Wirkung herzlich, erbaulich und gemeinschaftsfördernd. Für das allabendliche Publikumsfoto übergeben die Fans den Zwillingen täglich eine neue Länderflagge, liebevoll aufbereitet mit der aktuellen Stadt beschriftet. Liebenswürdige Aktionen wie diese machen Fandom zum Kitt und Seele einer brüchigen, mitunter hässlich agierenden Popkultur. Aber auch Fandom zeigt oft sein unbarmherziges Gesicht.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Teilweise stehen Fans schon eine Nacht vorher an, um in die erste(n) Reihe(n) zu gelangen. Bizarr, wenn man bedenkt, wie familiär selbst der größte Raum des Im Wizemann wirkt, doch auch hier überall nummerierte Hände, das Erkennungszeichen all jener, die stundenlang gewartet hatten. Die Zahl gibt unverblümt Auskunft darüber, wie lang man wohl angestanden ist und wo man am Ende stehen darf. Je niedriger, desto länger. Diese Form der selbstorganisierten Reihenfolge, bereits lange gang und gäbe bei den großen Shows von Taylor und Harry, ist für Fans die einzige Möglichkeit, eine irgendwie faire Regelung zu finden, die am liebsten alle in der ersten Reihe stehen würden. Auch wenn die Nummerierung teilweise einen hierarchischen Beigeschmack hinterlässt.

MEDUN, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Der dritte Song „Gimme your love“ ist eine Zusammenarbeit mit Medun, der den Abend mit einem DJ-Set eröffnet. Der österreichische DJ und Produzent aus Innsbruck ist Toursupport, der mit den Klängen von Mozarts Rondo alla Turka die Bühne betritt, was direkt in besagten Song „Gimme your love“ mündet. Sein Dance Remix von ABBAs „Gimme Gimme Gimme“ folgt zugleich, die Dramaturgie offenbart Kontinuität, auch die erneute Verbindung zu Schweden und deren Popgiganten. Songs der Hauptacts aufzulegen, auch mit Eigenbeteiligung, nun ja, aber niemand nimmts ihm übel, im Gegenteil. Das halbstündige Set kommt an. Alle singen zu „Price Tag“, „Firework“ oder „Set fire to the rain“ mit, auch jetzt wird schon fleißig mitgefilmt. Auf der Bühne wird es vorgelebt: Vor Medun zwei Pioneer CDJs mit GoPro an der Tischkante, hinter ihm wird die gesamte Zeit über Content produziert.

Auch das ist Pop in der Gegenwart. Am Merch ist alles erhältlich, nur keine Musik. Mit physikalischen Tonträgern und Vinylhype holt man Gen Z und Generation Alpha vermutlich weniger ab. Ausnahmen bestätigen die Regel, am Ende konsumieren jüngere Generationen Musik größtenteils anders. Das haben auch Labels und Managements verstanden: Wichtiger sind Social Media und Streaming. Und wie sagte es Lars von Audiolith mal so schön? Ein T-Shirt kann man nicht runterladen.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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ESC-Feeling kommt dann spätestens mit dem Song „Air“ in der Hälfte des Sets auf, einem der Höhepunkte des Abends. Mit „Air“ nahmen die Brüder bereits 2023 am schwedischen Vorentscheid teil, landeten damals aber auf dem zweiten Platz. Den Vorentscheid gewann damals Loreen, ebenso den anschließenden Eurovision Song Contest. „So it’s a good second place I would say“ erwähnt Marcus Gunnarsen bei Ankündigung des Songs. „Air“ sticht im Vergleich zum restlichen Set mit den teils zappeligen, quietschigen Popnummern völlig heraus: Binnen Sekunden ist so etwas wie eine Entschleunigung der durchweg aufgeladenen Stimmung spürbar, die Show erhält sogar kurz einen angenehm düsteren Vibe, als sich der Song langsam aufbaut und die beiden wunderbar sehnsuchtsvoll „I can breathe without air, you’re my, you’re my, you’re my air“ klagend singen, getränkt in dunkelblauem Licht.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Ein wahnsinnig guter, reifer Popsong, der sicherlich große Chancen beim ESC 2023 gehabt hätte. Einer der ESC-Nebeneffekte: Songs, die nicht im Finale vertreten sind, erhalten natürlich weit weniger Aufmerksamkeit. Das macht sie nicht automatisch zu schlechten Songs, weit mehr erhofft hatte man sich vermutlich dennoch. Einen großen Push erhält ein Song nur im Finale, er muss noch nicht mal gewinnen. ESC-Fans haben ihre eigenen Favoriten, die Public Votes haben schon oft den Wettbewerb auf den Kopf gestellt, das ist es, was den Contest spannend und reizvoll macht.

Mit großen Popsongs wird heute nicht gespart, als die beiden den Überhit „Wicked Game“ von Chris Isaak covern. Nicht ohne Grund, mit diesem Song gewannen sie The Masked Singer Sweden. Unzählige coverten diesen Song, denkt man nur an H.I.M. und Ville Valo, Skandinavien represent. Die ruhigen Momente sind heute ohnehin die stärkeren. „Heartbeat“, nur mit Gitarre begleitet, erinnert unweigerlich an Justin Biebers „Love yourself“. Diesem Vergleich sind sie seit Karrierebeginn ausgesetzt, so ganz weit hergeholt scheint es nicht, bis auf den Bekanntheitsgrad vielleicht. Ein frühes Idol, das die beiden im Alter von 11 schon gecovert haben.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
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Mittendrin muss eine Zuschauerin medizinisch versorgt werden, sie stoppen kurz, sprechen gut zu, dann geht es weiter. Vereinzelt schluchzen und weinen Mädchen, halten sich im Arm, singen jede Zeile mit. Ein schneller Outfitwechsel, Martinus jetzt in silberner Glitzerhose und schwarzem Tanktop, im zweiten Teil der Show sind auch Visuals wie Choreographien deutlich präsenter.

Nach 75 Minuten und 20 Songs endet das Konzert natürlich mit „Unforgettable“. Das große Finale, der Song, den hier alle hören wollen, zurecht, neben „Air“ definitiv der musikalische Höhepunkt. ESC never fails. It’s a bop! Ein Bop, der überdauern wird, im ESC-Kanon sowieso und für Marcus & Martinus sicherlich ein Meilenstein ihrer noch so jungen Karriere. Eine Zugabe gibt es nicht, so flink wie die beiden und die Band die Bühne verlassen, so schnell geht auch das Licht an.

MARCUS & MARTINUS, 10.03.2025, Im Wizemann, Stuttgart | Foto: X-tof Hoyer
Foto: X-tof Hoyer

Es wird für viele im Raum ein bleibendes Erlebnis sein, keines, für das man sich später schämen müsste. Jede Generation hat ihre frühen Popstars und Marcus & Martinus sind ernstzunehmende Musiker. Was Eurovision für eine zentrale Rolle bei jungen Menschen spielt, ist ein tröstender Gedanke, auch wenn in politischen Krisenzeiten auch beim ESC immer mehr spalterische Tendenzen bei Artists wie Fans deutlich werden. Der ESC ist mitnichten eine „unpolitische“ Veranstaltung. Aber er lässt seit 1956 zumindest für einen Abend eine Utopie wahr werden: Länderübergreifend Vielfalt zelebrieren und mit Musik gemeinsam feiern, für einen Moment Sorgen vergessen lassen. Weil Musik das Beste überhaupt ist. Ein bisschen Frieden.

Marcus & Martinus

Medun

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