PRINCE IN HIS ARMS, KITZ, 23.01.2025, Matthäuskirche, Stuttgart

Heute erlebt der Heslacher Dom die rituelle Waschung der Schallplatte im Scheine des Goldenen Kalbs der silbernen Discokugel, im Schatten des Kruzifixes. Dies leitet eine gemeinsame, klanglichen Sinnsuche ein. Wir lauschen zusammen dem heute veröffentlichten Album „Colours“. Ein Abend, den wir nicht vergessen werden: verlorn ist das sluzzellîn.
Die lange Schlange vor der Eingangstür der Matthäuskirche am Erwin-Schöttle-Platz ist das erste von vielen ikonischen Eindrücken, die sich heute Abend einprägen werden: Security-Service an der Pforte, im Seitenschiff Stehtische mit prima Primitivo zur Selbstbedienung, Kissenlager für Kinder, das Who Is Who der Stuttgarter Konzert- und Indieszene, elektronische Instrumente als Alter Ego des Altars, erwartungsvolle Stimmung.

Ralv Milberg a. k. a. Prince In His Arms, Produzent so vieler wichtiger Bands (exemplarisch genannt: Die Nerven, Levin Goes Lightly), und Anna Illenberger a.k.a. KiTZ feiern heute Abend ihre ganz eigene Musik-Messe. Diese beginnt Punkt acht mit einer langen Dankesrede an diejenigen Mitstreiterinnen und Mithelfer, ohne die dieser besondere Abend nicht möglich geworden wäre. Und der Ansage, dass es Kindersound brauche, alle mögen sich bitte zwanglos verhalten.

KiTZ beginnt den dreiteiligen Abend. Anna Illenberger trägt ihre englischen und deutschen, fein ausgestalteten Songs vor, begleitet von Beats und Loops. Sie entstammen von ihren Alben „KiTZ“ und „Blase“. Hypnotisch. Ergreifend. Einfach schön.

Umbaupause. An schweren Ketten wird eine meterdurchmessende Discokugel durchs Querschiff gehängt, zu Füßen des im Hintergrund schwebenden Herrn Jesu am Kreuze. Der Lichtmessner des heutigen Abends ist Hanno Braun von der Agentur Netzhaut, wir kennen ihn u. a. von seiner wunderbaren Begleitung des PsychInBloom-Festivals unter dem Namen BumZackLicht. Heute Abend baut er auf den bewährten Effekt der Spiegelungen. Sein Konzept geht auf. Die am Kirchenfirmament wandernden Lichter erzeugen eine popsakrale Atmosphäre der ganz eigenen Art.

Es beginnt der zweite Teil des Abends, Live-Musik von und mit Ralv Milberg, welche unterschiedlicher nicht sein könnte. Einem Song mit höchster Dringlichkeitsstufe im Stil von frühem Blumfeld folgt ein Elektro-Bass-Acid-Stück mit fernklingende Gesangsloops, dann ein psychedelisches Stück mit E-Gitarre, begleitet von Philipp Jost am Flügel. Abschließend baut Ralv alleine Shoegaze-Gitarrenwände um sich herum auf. Und lässt sie wieder verklingen.

Aus der Rubrik „And now for something completely different“ hält uns Ralv, nun gewandet in der Toningenieurberufsbekleidung, also im weißen Arbeitskittel, einen technischen Vortrag über die Tiefen und Untiefen der Schallplatte. Anhand von Mikroskop-Fotos und technischen Zeichnungen, projiziert auf eine Leinwand, doziert der Herr Professor über den Rubinstichel, der im Plattenproduktionsvorgang die Rille kratzt und sich dabei erstaunlich schnell abnutzt, über gegenphasige Signale und Monokompatibilität, über die unterschiedlichen Rillenlaufgeschwindigkeiten von 50 cm/sec am Plattenrand (höhere Klangtreue) und von 20 cm/sec am Plattenloch (niedrigere Klangtreue) usw. Ab 900 Abspielungen einer Vinylschallplatte trete übrigens ein signifikanter Verschleiß ein, daher Tipp vom Experten: Besser gleich zwei Platten kaufen. Doch die größte Herausforderung sei jedoch der Staub.

Den dritten Akt des Abends einleitend öffnet Ralv nun endlich ein noch jungfräuliches Exemplar des heute im Zentrum stehenden Albums „Colours“ und legt sie in das Schallplattenreinigungsgerät, den Vinylwascher. Er trägt er eine Lotion auf, quasi erste Ölung. Zusammen mit der in der Kirche versammelten Gemeinde zählt der die zwanzig Platten-Umdrehungen des Säuberungsvorgangs herunter, der rituellen Waschung wird Applaus gespendet. Endlich wird die Platte aufgelegt. Der Technics wird zum Altar.
Bon Voyage
wünscht Père Ralv.

„Colours“ entführt uns in den Garten Eden der Klänge, als aller Schall noch unbekleidet war und jeder Ton so sein durfte, wie er geschaffen wurde. Psychedelisches Gitarrenspiel, hörspielartiges Retro-Ambient, Popsongfragmente, von Ferne wehende Rückkopplung, schwebende Rhythmen. Zur Einordnung: das klingt wie die frühen und ruhigen Yello-Stücke, wie The Orb, stellenweise wie Future Sound Of London.
Nach 18 Minuten ist die erste Seite zu Ende, Prince Ralv dreht die Platte um. Aufgepasst, auf der B-Seite seien die Hits. Die teils verzauberte, teils irritierte Kirchengemeinde wird beglückt mit geloopter A-Rhythmik, sphärischen Postpunk-Schleifen, C-64-Gametunes, und dem Hook
Und deshalb frage ich Dich: Soll das bleiben?

Mit dem mehrstimmig arrangierten mittelhochdeutschen Liebeslied endet die Listening Show:
Dû bist mîn, ih bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzellîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.
Spiegelt uns „Colours“ die Vielschichtigkeit der Welt wider? Soll es uns genau von dieser entführen? „Colours“ fordert den Hörenden heraus. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem Abenteuer belohnt. Ja, das soll so bleiben. Am Ende verneigen sich alle Mitwirkende und danken herzlich für die Aufmerksamkeit. Mit dabei ist derjenige, der die Produktion gemastert hat: Andreas Rieke, a.k.a. And.Ypsilon. Ralv und Anna und alle anderen: Vielen Dank für das Geschenk dieses Abends.
