HIGH VIS, PAIN OF TRUTH, 25.11.2024, Im Wizemann, Stuttgart
„Post-Industrial-Britain Misery Punk“, allein in dieser Genre-Bezeichnung stecken fünf Triggerbegriffe, die mich auch an einem nasskalten Montagabend auf ein Konzert locken. High Vis aus London sind im Wizemann. Sie haben nicht nur ihr aktuelles Album „Guided Tour“ im Gepäck, ihnen eilt auch ein Ruf als hervorragende Live-Band voraus. Und sie schaffen es tatsächlich, an so einem wenig geeigneten Konzert-Tag circa 250 Zuschauer:innen in den Club im Wizemann zu locken. (Darunter drei Fünftel der Local Heroes Berlin 2.0)
Als wir Punkt 20 Uhr den Saal betreten, sind nicht etwa wenige Zuschauer da, der Saal ist tatsächlich komplett leer. Oha, sollte dies etwa ein Debakel für den Veranstalter werden? Aber mit den ersten Takten lockt der Support Act Pain of Truth die Leute von der Theke und der Raum füllt sich zügig. Respekt, die Hardcore-Band aus New York schafft es tatsächlich, mit ihrem unfassbar energiereichen Auftritt innerhalb von circa zehn Minuten die Ersten in einen wilden – vielleicht etwas überambitionierten – Moshpit zu bewegen. Für mich als Genre-Neuling ein durchaus beeindruckendes Erlebnis. Und gleichzeitig entdecke ich einige überraschende Parallelen zum erst kürzlich entdeckten Speed Metal. Nach gut zwanzig Minuten endet der Gig genauso abrupt, wie er begonnen hat, und hinterlässt ein Publikum auf Betriebstemperatur.
Was das Energielevel betrifft, legen High Vis nochmal eine Schippe drauf. Die Art, in der sich Sänger Graham Sayle in den Auftritt wirft, lässt sich kaum allein dadurch erklären, dass er als Bühnengetränk Energy Drinks konsumiert. Die zornig herausgeschrienen Botschaften in breitem britischen Akzent bleiben live zwar weitestgehend unverstanden, sind aber, so ergibt die nachträgliche Recherche, politisch und gesellschaftskritisch.
Das wirklich Spannende ist aber die musikalische Mixtur, die die fünf Londoner zusammenbrauen. Im Gegensatz zu ihrer musikalisch eher eindimensionalen Vorband haben High Vis eine wilde Mischung aus Hardcore, Punk, Post-Punk und sogar Elemente von Shoegaze und Madchester am Start. Schon das Intro ihres Openers „Talk for Hours“ mit dem soliden Bass und den wabernden Gitarren weckt wohlige Erinnerungen an „Leave Them All Behind“ von Ride. Beim Gesangsvortrag enden allerdings die Gemeinsamkeiten mit den Shoegazern aus Oxford, hier ist Sayles Herkunft aus dem Hardcore deutlich zu hören. Manchmal habe ich auch das hysterische Geschrei von Adam Horovitz in „Sabotage“ im Ohr.
Überraschend viele im Publikum können die Texte mitsingen. Offensichtlich hat die Band, die mir bis vor Kurzem noch unbekannt war, eine treue Fanbase. Und die kommt zweifellos auf ihre Kosten. Das Set ist kompakt, bietet aber eine ausgewogene Mischung aus allen drei Alben. Die Ansagen sind eher knapp, die Band reiht lieber einen Titel an den anderen. Die Energie bleibt durchgängig hoch, das Publikum wird konstant in Bewegung gehalten.
Zwischen den Titeln wandelt sich der Sänger, der während der Songs wie ein Berserker über die Bühne tobt, immer wieder in einen äußerst sympathischen Kerl, der sich mehrfach höflich für das zahlreiche Erscheinen bedankt. Nach einer knappen Stunde endet der Gig mit „Chose to Lose“. Und ohne Zugabe. Was nach einem derart runden Auftritt – und eigentlich auch sonst – ebenso konsequent wie richtig ist. Seinen Nimbus als großartige Live-Performer hat das Quintett überzeugend untermauert und es würde mich sehr freuen, High Vis diesen Sommer vielleicht auf dem ein oder anderen Festival wiederzusehen. Der Start in die Konzertwoche ist jedenfalls bestens gelungen.
Setlist
Talk for Hours
Altitude
Walking Wires
0151
Out Cold
Farringdon
Mob DLA
Forgot to Grow
Fever Dream
Drop Me Out
Mind’s a Lie
Trauma Bonds
The Bastard Inside
Chooes to Lose
High Vis
Pain of Truth
