NEUER DEUTSCHER ACID, TVNEL, MEFISTA, SMOOTH GHUL, 22.11.2024, Off Location, Stuttgart
Das glamouröse Leben als Gigblogger führt einen teilweise zu sehr erstaunlichen Veranstaltungen an höchst ungewöhnlichen Plätzen. Von diesem Event hätten wir vermutlich nie erfahren, wenn uns nicht der freundliche Veranstalter eingeladen hätte.
So finden wir uns dann erwartungsfroh in halbprivatem Rahmen am „geheimen“ Veranstaltungsort im Stuttgarter Norden ein und treffen tatsächlich auch gleich einige bekannte und sehr freundliche Gesichter. Draußen gibts wärmendes Feuer, drinnen bleibt es über den langen Abend recht frisch und ich träume immer wieder von einer Fußbodenheizung.
Derartig dekadente Annehmlichkeiten gibt es im Underground aber nicht, weshalb Publikum und Künstler*innen mit dicken Jacken und warmen Mützen einen kurzweiligen Abend verbringen. Angekündigt sind gleich vier Acts plus weitere DJs, mir natürlich alle unbekannt – aus den spannend klingenden Ankündigungen bleibt bei mir das vielversprechende Etikett „Acid Goth“ hängen.
Durchaus vielversprechend ist auch die Information, dass gleich zwei Projekte heute ihr Bühnendebüt feiern. Um 22 Uhr steht das Stuttgarter Duo Smooth Ghul auf der Bühne – durchaus treffend als LoFi Wave HipHop beschrieben. Ihre bassigen „Klagelieder“ (O-Ton MC Tizian) kommen mit schwerem Groove und englischen Texten. Die Beats werden von DJ Headless Fatass mit ökonomischer Präzision (und Performance) gezaubert, der Reimflow ist für Oldschoolsozialisierte recht postmodern. Macht einen in der Tat smoothen Einstieg mit laidback Kopfnicken zu live doch ganz schön mächtigen Beats.
In der Pause legt Veranstalter Markus elektronische Sounds auf, die ich stilistisch kaum einordnen kann, die aber sehr gut funktionieren und erste Parkas, Anoraks und Mäntel in Bewegung bringen. Auf der Bühne wird derweil das aufwändigste Setup des Abends in Position gebracht.
Denn die Stuttgarter Mefista legen erkennbar Wert auf Styling und Inszenierung. Frontfrau Jazz gibt die laszive Femme Fatale mit sehr mädchenhafter Stimme und betont abgründigen (provokanten?) Texten (so weit ich sie verstehe). Ihr Begleiter Tim an Synthie und Rechner sorgt mit starken Posen für einen treibenden elektronischen Soundteppich. Angekündigt als Industrial Pop bin ich anfangs nicht als einziger etwas irritiert. Fühle mich sogar ein wenig an das mindestens ebenso denkwürdige Konzert von Riki vor zwei Jahren im Esslinger Komma erinnert.
Sollten Mefista mit ihrer glamourösen Show nicht besser in einer Großraumdisco auftreten? Schon nach kurzer Zeit entspannt sich aber die Lage, kleine Soundprobleme werden gelöst und schnell wummern die herben Industrial-Beats sehr stramm von der Bühne. Der düstere Groove funktioniert zu den kühlen Girl-Vocals – ich höre Einflüsse von Enigma bis Italodisco heraus. Den Anwesenden gefällts und es wird munter getanzt. Die Band freut sich zu Recht über dieses gelungene Bühnendebüt und ich bin schon gespannt, wie ihre nächsten Karriereschritte aussehen.
Die Leute sind jetzt richtig in Stimmung, tanzen zu den coolen Umbaupausen-Beats von Markus und bekämpfen die frostige Kälte mit Augustiner aus dem Kühlschrank (funktioniert tatsächlich). Für den Spanier Tvnel wird die Bühne einfach leergeräumt, hinten bleibt nur das DJ-Setup. Der adrette Typ in den unauffälligen Klamotten startet den Beat – und wird am Bühnenrand zu einer expressiven Showmaschine mit lässigen Dancemoves, großen Gesten und gekonnt inszeniertem Zigaretterauchen. Sein Sound ist fett, die elektronischen Beats bedienen sich großzügig bei „Los Ninos Del Parque“ (Liaisons Dangereuses) in deutlich abgespeckter Version, seine Grabesstimme erinnert an Vlad Parschin von Motorama. Auch dank der spanischen Vocals entwickelt sich seine Performance zur hypnotischen Party zwischen Postpunk und Synthiepop. Vor zehn Jahren hat er ein Album veröffentlicht – höchste Zeit für den nächsten Karriereschritt. Ein neues Werk würde ich in Vinylform jedenfalls ungehört kaufen.
Nach diesem euphorisierenden Auftritt gib es keine Umbaupause, denn Veranstalter (und Geburtstagskind) Markus übernimmt als Neuer Deutscher Acid nahtlos die Bühne von Tvnel. Seine Beats sind Gothic-Acid (Selbstbeschreibung), darüber wird auf Deutsch gerapt. Dank gesampleter Gitarren, variabler Sounds, einem Hauch von Sleaford Mods und seiner grundsätzlichen Haltung empfinde ich den groovenden Sound aber eher als Postpunk bis Punk. Dafür spricht auch das souveräne „Stuttgart Kaputtgart“-Cover. Die Songs sind eingängig und sehr tanzbar, was von den anwesenden Fans gefeiert wird.
Und auch die altgedienten Gigblogger werden von einer Welle der Euphorie mitgerissen – auch wenn wir die folgenden DJ-Sets erschöpft, mit kalten Füßen und warmen Herzen im Nachtbus verpassen.