ALCEST, SVALBARD, DOODSESKADER, 14.11.2024, Im Wizemann, Stuttgart
Mein alter Hausarzt – er hat seine Praxis mittlerweile geschlossen – gab gerne Tipps, die man einfach mit Hausmitteln befolgen konnte. Einer davon war, zum Duschen nicht erst zu warten, bis das Wasser warm war, sondern schon das kalte Wasser zu nutzen, indem man sich langsam von unten nach oben abduscht.
Auf diese Weise ist das Wasser warm, wenn man beim Herzen ankommt. Und trotzdem hat man etwas Gutes für den Kreislauf getan, denn beim kalten Wasser ziehen sich die Gefäße zusammen und weiten sich beim warmen Wasser wieder.
Der Abend mit Alcest Im Wizemann kommt einer solchen Dusche gleich – nur ist es eine emotionale Dusche.
Und die ist erst mal grimmig. Doodseskader will wirklich nicht gefällig sein. Deren Musik ist sperrig, auch sperrig gegen jede Beschreibung. Während ich hier um Worte ringe, höre ich mir die neue Platte an und muss feststellen, dass sie sich wesentlich besser emotional als musikalisch fassen lässt.
Doodseskader ist geprägt von einer Mischung aus urban angst und persönlichem Unglück. Das schlägt sich nieder in hörbarem Leid und großer Wut. Beides wird immer wieder zurückgefahren und bricht sich dann erneut Bahn, was musikalisch zu einem Laut-Leise-Kontrast führt, dem sich alle Instrumente unterwerfen.
Auf der Bühne sind nur zwei, Tim de Gieter (Bass) und Sigfried Burroughs (Schlagzeug). Dazu gibt es verstörende elektronische Geräusche aus dem Off. Beide Musiker singen, mal melodiös, mal spoken word, mal wütend, mal als Geschrei und Gegrowle. Bedingt durch die Instrumentierung ist das alles sehr rhythmisch, aber dieser Rhythmus ist immer gegen die Stille, gegen das Leise gesetzt. So sind die auf dem Bass gespielten Akkorde wie wütende Schläge.
Die Texte erzählen nichts Fröhliches:
Burried my soul at the bottom of a well
So toss a fucking coin and be a patron to my hell
Forty fucking five, fuck the hand I was delt
Aus: „People Have Poisoned My Mind To A Point Where I Can No Longer Function“
Damit kann ich mich identifizieren. Und auch ein Gefühl dringt durch die Dumpfheit meiner Depression. Es ist Wut. Die Musik ist effektiv. Es zieht sich alles zusammen wie im kalten Wasser.
Fröhlicher sind auch Svalbard nicht drauf. Aber sie sind wesentlich eingängiger. Wie Doodseskader werden sie als Post-Metal eingestuft. Post-Hardcore ist auch mit dabei. Dennoch haben wir hier typische Songstrukturen, wesentlich kompakteres Riffing.
Leider hat Svalbard einen fürchterlich schlechten Sound. Und mit einem fürchterlich schlechten Sound meine ich sowas wie, dass Sängerin Serena Cherry während des ersten Songs nur über ihren Monitor zu hören war, statt über die PA. Alles klingt irgendwie ruppig.
Wenn ich oben schreibe, dass Svalbard ein kompakteres Riffing hat, möchte ich eigentlich ergänzen, dass sich alles musikalisch gut zusammenfügt, aber das ist wirklich nur auf der Platte der Fall. Live habe ich mich den ganzen Auftritt über gefragt, worauf die Band eigentlich hinauswill.
Auch hier ist die Musik von einer Zweistimmigkeit geprägt. Serena Cherry bringt das raue Shouten ein, wie man es aus dem Hardcore kennt. Ihre Gitarre spielt generell die höheren, flirrenden Töne. Liam Phelan spielt die tiefere Gitarrenstimme – und keift in einer höheren Lage als Serena Cherry, was ein wenig nach Black Metal klingt.
Auf Platte fügt sich das perfekt zusammen. Bei dem Live-Sound hatte man permanent das Gefühl, dass sich der Hardcore- und der Black-Metal-Anteil streiten. Schade.
Svalbard singen zum Beispiel über schwere Depression, wodurch ich mich gesehen fühle. Die Ansage kam, glaube ich, zu „Defiance“, aber hier ist ein anderer Textausschnitt:
There is an incredulousness
That accompanies my depressed existence
It asks how on earth I am getting through this
So how on earth am I getting through this?
Aus: „Faking it“
Anders als bei Doodseskader gibt es bei Svalbard auch warme Klänge, die zwischen den Blastbeat-Gewittern durchscheinen. Das Wasser wird langsam wärmer. Und warm wird es schließlich bei Alcest.
Es mag von außen betrachtet schwierig sein, sich vorzustellen, wie von Black Metal beeinflusster Post Metal warm sein kann. Aber er ist es. Er ist es durch die Atmosphäre, welche die Musik kreiert, durch die sanften Melodien und durch den Klargesang von Bandgründer Stéphane „Neige“ Paut und Live-Gitarrist Pierre „Zero“ Corson.
Mit Alcest befinden wir uns im Land der Paradiesvögel. Sie treten im zweiten Stück „L’Envol“ auf:
Le soir je m’imagine
Rejoindre en plein vol
La cohorte surnaturelle
D’immenses oiseaux de paradis
Aus: „L’Envol“
In dem naturmystischen Video zu diesem Stück treten diese Paradiesvögel zuerst auf. Im Wizemann sehen wir sie dann als übermannsgroße Skulpturen auf der Bühne. Daneben sind der Drumraiser und der Bühnenrand geschmückt mit wilden Gräsern. Schließlich schwebt über all dem ein riesiger, leuchtender Mond. Das Backdrop und die seitlichen Banner sind in schlichtem Silber gehalten. Auf sie ergießen sich während des Konzertes Landschaften aus Licht.
So entsteht im Wortsinne wie im musikalischen Sinne ein stimmiges Bild. Die schwebende Stimme von Stéphane „Neige“ Paut lässt auch das Publikum schweben. Darunter legt sich ein dichter Teppich aus zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug, der ganz der Atmosphäre dient.
Auf diese Weise entsteht auch der post-metallische Gesamteindruck. Für diese Musikrichtung hat man den Begriff Blackgaze erfunden: wo sich Post Metal, Shoegazing und Black Metal vereinen. Und die Entwicklung von Alcest geht deutlich in die Richtung, weicher und wärmer zu werden, weil sich entsprechende Stilmittel, die es bei der Band schon immer gegeben hat, auf dem neuen Album „Les Chants de l’Aurore“ mehren.
So werden Alcest zu einer wohligen emotionalen Dusche, unter der man nicht mehr heraustreten möchte. Doch natürlich geht auch so ein Abend zu Ende. Was Alcest nach Stuttgart gebracht haben, ist ein „Souvenirs d’un autre monde“, das allen Schmerz – und sei es auch nur für einen Moment – mit sich nimmt:
N’aie crainte, à présent tout est fini
Brise les chaînes de tes peurs mortelles
Pour à jamais en être libéré
Et retrouver la quiétude passée.
N’aie crainte, à présent tout est fini
Laisse couler tes larmes une dernière fois
Pour à jamais en être libéré
Et rejoins le monde d’où tu viens.
Was für geile Bilder! Danke, Schmoudi!
Schöner, emotionaler Text.