CHRISTIN NICHOLS, HUNGERGEFÜHL, 02.11.2024, Helene P., Stuttgart
Die künstlerische Vielfalt von Christin Nichols ist beeindruckend. Sie ist Theater- und Filmschauspielerin, Synchronsprecherin und Musikerin mit eigenem Label. Musikalisch aufgefallen ist sie mir bereits vor einigen Jahren, damals noch als Teil des Elektropunk-Duos „Prada Meinhoff“. Seither ist einige Zeit vergangen, Frau Nichols wandelt nun solo auf musikalischen Pfaden und veröffentlichte unter diesen Voraussetzungen dieses Jahr bereits ihr zweites Album „Rette sich, wer kann“. Inhaltlich greift sie persönliches auf, positioniert sich aber auch politisch, singt sie doch „Ich will leben, als ob die AfD was dagegen hätte“ und das mit der, dem Thema angemessenen, Wut.
Musikalisch bewegt sich das zwischen energetischem Indie-Alternative Rock, New Wave und Postpunk-Zitaten. Mit dieser abwechslungsreichen Mischung im Tourgepäck erwarte ich mir einen spannenden Konzertabend im gut gefüllten Helene P.
Als Support steht heute Abend der mir bis dato völlig unbekannte Musiker Hungergefühl auf der Bühne. Leider konnte ich über ihn auch bei meiner Recherche nichts finden, er scheint sich dem öffentlichen Auftritt, jenseits seiner Musik, völlig zu verweigern. Ist dies einer, durchaus berechtigten, kritischen Haltung gegenüber dem WWW zu erklären? Sein geradliniger, von Hardcore und Punk beeinflusster Musikstil, legt bei mir zumindest diese Vermutung nahe. Geradlinig und schnörkellos ist es, was hier dargeboten wird, mit der, den genannten Genres innewohnenden Härte versehen. Kritische Texte, deren klare Aussagen mit einer gehörigen Wut vorgetragen werden, brechen sich Bahn. Und doch bleibt der Auftritt versöhnlich, geradezu fürsorglich wird sich nach dem Befinden des Publikums erkundet und Dankbarkeit gezeigt, live spielen zu können. Ich bin gespannt, was man von Hungergefühl noch hören wird.
Auftritt Christin Nichols. Aber Hallo, von der ersten Sekunde an wird eine theatralische Präsenz zelebriert. Hier lässt sich sofort die ausgebildete Theaterschauspielerin erkennen. Exaltiert und direkt ist das, der unmittelbare Kontakt zum Publikum wird gesucht und die Zuschauer*innen, die mit einigem Abstand zur Bühne stehen, nach vorne gebeten. Distanz ist nicht gewünscht, das Publikum will gefühlt werden. Nichols ist wirklich auf der Bühne Zuhause.
Musikalisch wird ein hohes Tempo geboten, ein ordentliches Energielevel gefahren. Sägende Indie-Alternative Gitarrensounds, tiefe Bass-Vibes, der schweißtreibende Rhythmus des Schlagzeugs erfüllen das Helene P. Christin Nichols will heute Abend eine Party feiern, was sie auch immer wieder in ihren zahlreichen Ansagen kundtut. Dem Publikum gefällt’s und feiert mit, auch befeuert durch die exaltierte Bühnenperformance, irgendwo zwischen Headbanging und Ausdruckstanz.
Textlich werden aber durchaus ernste Töne angeschlagen. Themen wie Sexismus, Selbstzweifel und Angst werden musikalisch verhandelt. Im Song „Citalopram“ (ein selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, der als Antidepressivum und zur Behandlung von Angststörungen eingesetzt wird) singt sie offen über ihre eigenen Erfahrungen, ja, sie singt gegen die Ängste an und zelebriert heute Abend das Leben.
Als Zugabe gibt es den Song „In Ordnung“, den sie gemeinsam mit Julian Knoth von „Die Nerven“ geschrieben und aufgenommen hat, in dem es heißt:
Wenn das hier in Ordnung wäre, dann wär’s nicht wie es ist
Wenn ich das wirklich sehen sollte, wäre auch hier Licht
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich’s wirklich sehen will
Weil ich dann was tun müsste, also lass ich das Licht aus …
Ein Song mit Wurzeln im Post-Punk und mit einer Wut vorgetragen, die mich durchaus an die Riot Grrrls der Neunziger erinnern lässt.
Nach circa siebzig Minuten verlässt die Band verschwitzt die Bühne, um am Merchstand den direkten Austausch mit dem Publikum zu suchen. Auch hier zeigen Nichols und ihre Mitmusiker*innen keine Berührungsängste.