APSILON, JASSIN, 03.11.2024, Im Wizemann, Stuttgart
Jassin rappt über Ostdeutschland, über Autos aus denen zu laut rechte Musik schallt, über das Aufwachsen als Junge mit ägyptischen Wurzeln in der Lutherstadt Wittenberg. Er eröffnet heute das Konzert von Apsilon im Wizemann. Die Konzertbesucher*innen hat er schnell für sich gewonnen, genau wie das Deutsch Rap-Internet seit wenigen Monaten. Für seinen Song „Duftkerzen“ gibt es deshalb bereits vorab Applaus, den Refrain von „Kinder können fies sein“ singen die Allermeisten textsicher mit. Die wuchtige Musik dazu kommt „vom Band“, Yves Richter unterstützt zusätzlich mit Akustik- und E-Gitarre. Der letzte Song ist Jassins Vater gewidmet.
Und damit wären wir eigentlich endlich bei Apsilon, wenn ich nicht noch kurz diesen Einschub machen müsste:
Auf arte ist aktuell eine Doku-Serie über DJ Mehdi zu sehen. Mit 34 Jahren bei einem tragischen Unfall verstorben, produzierte er in den 90ern für französische Rap-Gruppen aus den Pariser Vorstädten Beats. Die vierte Folge der wirklich sehenswerten Dokumentation heißt „Made in France“ und thematisiert die Geschichte und den riesigen Erfolg um den Song „Tonton du Bled“ („Der Onkel vom Land“) der Band 113 aus dem Jahr 1999. Musikalisch auf einem arabischen Musik-Sample basierend, geht es um viele Taschen und Koffer, die in ein altes Auto geladen werden, um über den Sommer die Verwandten in Nordafrika wiederzusehen.
25 Jahre später ist „Koffer“ der erste Song des Abends für Apsilons heutiges Konzert. Der Rapper steht nicht auf einem solchen, aber da ich das zusätzliche Bühnenpodest zuerst nicht richtig sehen kann, ist der Gedanke nicht ganz abwegig, dass es wirklich ein Koffer sein könnte. Die „Gastarbeiter“, Migrant*innen, die nach Europa, Frankreich, Deutschland gekommen sind und weiter kommen werden: Sie haben bis heute dieses Gepäck dabei und geben es an ihre Kinder und Enkel, vielleicht nicht in echt, aber immer im übertragenen Sinn, weiter.
Dunkel gekleidet verlässt Apsilon seine erhöhte Position und springt durch das monochrome Blitzlicht-Gewitter ausladend über die ganze Bühne. Später legt er seine bullige Jacke ab und auf dem Rücken seines Shirts leuchtet in Neon-Gelb der Schriftzug „Haut wie Pelz“, der Name seines Anfang Oktober erschienen Debutalbums. Er spielt heute alle Songs davon.
Sein Sprechgesang ist live tadellos, seine ganz eigene Art, die Wörter vielleicht immer eine Milisekunde zu lang auf der Zunge zu behalten, höre ich hier kaum noch raus. Bruder Arman unterstützt am Laptop (die Zeiten der Turntables auf Rap-Bühnen ist einfach vorbei) und als Back-Up MC. Später wechselt Arman an das feine Fender Rhodes-Piano, Yves Richter spielt auch in dieser Formation Gitarre. Der Bass ist mir im vorderen Teil des ausverkauften Clubs an meinen vibrierenden Nasenflügeln zu laut, weiter hinten fangen die vielen Menschen die Tiefen etwas ab.
Apsilons Rap ist politisch. Das lässt sich nicht nur an den Infoständen des Antifaschistischen Bündnis und von Sea-Eye im Foyer erkennen. Faschisten, Nazis, Rassismus – nicht nur zugekokst auf Sylt – alles wird klar benannt und die vermeintlichen Probleme, falsche, durch und durch deutsche Narrative über Jungs und junge Männer wie ihn selbst, geboren in Berlin, aufgezeigt. Nie mit Resignation, immer entschlossen, aus Wut auf die Morde in Hanau, als selbstermächtigte „Kanaks“, auch wenn das Polizei-Blaulicht (jetzt natürlich nur aus den Scheinwerfern) schon ganz nah zu sehen ist.
Begleitet vom Bühnenlicht in maximal zwei Farben, laufen auf dem Backdrop hinter der Band untertitelte Filmszenen in Schwarz-Weiß, die dem ganzen Konzert einen festen Rahmen geben. Vielleicht ist das jetzt wirklich eine Referenz nach Frankreich und an die Urmutter aller europäischen Rap-Filme „La Haine“? Als allererste Einspielung ist da jedenfalls – wie passend – ein Daimlerstern zu sehen, dann wieder ein Verhör bei der Polizei nach dem Autounfall mit eben diesem Mercedes, der Berliner Fernsehturm taucht auf. Und das Gesicht von Paula Hartmann beim gemeinsamen Song „Grau“. Überhaupt hat Apsilon einen üppigen Strauß an Gästen in seinem Gesamtwerk (aber leider nicht im Wizemann mit dabei): Wa22ermann, Luvre47, Blumengarten und Beat-Produzent Bazzazian werden gegrüßt und vom Publikum bejubelt. Gemeinsam schreiben sie mit und für Apsilon, Beats, Strophen und Refrains, für seinen gesellschaftskritischen Rap und seine modernen Liebeslieder, Songs zum Abgehen und zum traurig Zuhören.
An einer Stelle beugt sich der Rapper kurz zu seinem Bruder, um zu fragen, welcher Track als Nächstes kommt und gibt offen zu, dass er das vergessen hatte. „Einfach ehrlich sein“, kommentiert er trocken. Und genauso ehrlich ist „Baba“, Apsilons Song über seinen Vater, der zu viel gearbeitet und zu wenig gefühlt hat. Über emotionale Kälte und den eigenen Wunsch, anders zu fühlen, weicher zu sein, anders männlich zu sein. „Baba“ ist Apsilons Hit, der längst die Deutsch Rap-Blase verlassen hat. Live spielt der große Bruder Apsilon dazu Klavier, der kleine Bruder Arman Saxofon. Viele im Publikum umarmen sich und ich bin sicher, dass die ein oder andere Träne vergossen wurde.
„Baba“ kommt dann im Zugabenblock in der Albumversion nochmal wieder, genau wie „Reiche Freunde“ und „Lauf weg“. Apsilon ist die Freude an seiner Live-Show über den ganzen Abend ins Gesicht geschrieben, er genießt die Nähe zum Publikum und vielleicht hätte er es sich doch mehr als einen Moshpit an diesem Abend gewünscht? Alle anderen Städte auf dieser Tour haben noch die Chance, ihm diesen Wunsch an einem sehr starken Konzertabend zu erfüllen!