VIVIEN GOLDMAN, 02.10.2024, Werkstatthaus, Stuttgart

Vor zwei Wochen sah ich, eher zufällig, auf arte.tv die Doku „Punk Girls. Die weibliche Geschichte des britischen Punk“. Unter den Zeitzeugen-Interviews mit Punk-Protagonistinnen wie Viv Albertine von The Slits und Annette Benjamin von Hans-a-Plast fielen mir vor allem die mit einer Journalistin namens Vivien Goldman auf. Ihre präzise Szenekenntnis und zeitgeschichtliche Einordung der feministischen Punkbewegung gehören zum interessantesten der auch sonst rundum sehenswerten Dokumentation.
Wie es der Zufall so will: Wenige Tage später ist Goldman, die – wie ich inzwischen recherchiert hatte – ein gewisser Legenden-Status umweht, zu einem von nur vier Deutschlandauftritten in Stuttgart. Der ClubCANN veranstaltet das Event im Werkstatthaus, erfreulicherweise im gemütlichen Café der alten Villa und nicht im etwas rauen Konzertkeller.

Knapp 30 Zuschauer:innen haben sich eingefunden, um – so die Ankündigung – Musik, Lesung und Talk zu erleben. Die 72-jährige, zierliche New Yorkerin, die aus ihrer Winterresidenz in Jamaika angereist ist, kommt im kanariengelben T-Shirt-Kleid, das mit dem Cover ihres Buches „The Revenge of the She-Punks“ bedruckt ist. Und sie ist in allerbester Plauderstimmung. Aus dem Stand intoniert sie unerschrocken drei ihrer Songs zum Playback. Darunter auch ihr etwas schräger Hit „Launderette“. Ein Hauch von Karaoke durchweht den Raum.
Sie liest aus ihrem in Kürze erscheinenden Buch „Rebel Musix – Scribe on a Vibe“, das eine Sammlung ihrer wichtigsten Artikel aus ihrem in 45 Jahren entstandenen journalistischen Fundus beinhaltet. Sie wählt ein Interview von 2014 mit Can-Mitglied Irmin Schmidt über deren erstes Album „Tales of the Supernatural“, über den aus ihrer Sicht etwas diskriminierenden Begriff „Krautrock“ und die Bedeutung dieser in England und USA weit mehr als in Deutschland geschätzten Band.

Der Buch-Untertitel „Frontline Adventures Linking Punk, Reggae, Afrobeat and Jazz“ liefert jedenfalls ausreichend Stichworte für die anschließende Talkrunde. Diese wird von der erst am Nachmittag spontan rekrutierten Gig-Bloggerin Yvy Pop moderiert. Die aus Zeitmangel etwas knappe Vorbereitung kompensiert die Kollegin mit Charme und Routine, zumal die Chemie zwischen den beiden auf Anhieb zu stimmen scheint und Vivien ohnehin nur geringe Themenimpulse benötigt, um aus ihrem unfassbaren Schatz an Anekdoten zu schöpfen. Sei es als Gründungs-Mitglied der Flying Lizards, als Bob-Marley-Vertraute und -Biografin, als Chronistin von Fela Kuti oder als Professorin für Punk und Reggae an der Universität New York – aus jedem dieser Lebensbereiche sprudeln die spannenden, lustigen und manchmal auch skurrilen Anekdoten aus der quirligen, unheimlich jung wirkenden Goldman.
Ungläubiger Schauer verbreitet sich, als sie von einem Fela-Kuti-Konzert (1984 in Camden, London) berichtet, bei dem auf offener Bühne einem Anwesenden vom Geistheiler und Kuti-Vertrauten „Professor Hindu“ die Kehle durchschnitten wird. Dies ist zwar, genau wie das folgende Begräbnis und die spätere Auferstehung, alles nur ein makaberer Trick des Mannes aus dem Umfeld des nigerianischen Künstlers, hat die damals anwesende Jung-Journalistin Goldman aber nachhaltig verstört.

Allein wegen der Dichte und des Tempos ihres Vortrags ist es nicht immer ganz einfach, ihr zu folgen, zumal sie auch gerne mal mitten im Satz ins Deutsche oder Französische wechselt. Das Publikum ist aber nicht nur sehr aufmerksam und erfrischend bunt gemischt, es sind auch einige ausgewiesene Fans und Auskenner darunter, sodass die Bitte nach Fragen aus dem Publikum nicht zu einem betretenen Schweigen führt, sondern den Abend eben so rege fortführt. Wir erfahren einiges über ihr allererstes Interview (mit Captain Beefheart), die Bedeutung der „Recycling-Musik“ Dub und ihres überragenden Protagonisten Jah Shaka.
Nach knapp eineinhalb Stunden endet der kurzweilige Abend ebenso abrupt, wie er begonnen hat, findet aber am Merch-Table im Foyer noch eine ausgiebige Fortsetzung. Hier werden alle mitgebrachten Devotionalien signiert, rares Vinyl verkauft und es gibt im direkten Gespräch noch weitere Einblicke in die Gedankenwelt der jüdischen Buddhistin Vivien Goldman. Dass sie nicht an das Jenseits glaubt und im Hier und Jetzt ihr Glück sucht, das hat sie an diesem Abend jedenfalls mit viel Verve bewiesen.
